Euro am Sonntag-Interview

DIW-Präsident: "Das macht Deutschland für Einwanderer so attraktiv"

16.05.16 03:00 Uhr

DIW-Präsident: "Das macht Deutschland für Einwanderer so attraktiv" | finanzen.net

Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen ­Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), über Helikoptergeld und den richtigen Weg, Vermögen aufzubauen.

von Oliver Ristau, Euro am Sonntag

Berlin, Friedrichstraße - das neue Zentrum der Hauptstadt. Brandenburger Tor und Checkpoint Charlie sind nicht weit. Viel Verkehr und viele Touristen - auf dem Zehn-Minuten-Weg vom Bahnhof Friedrichstraße bis zum Sitz des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) in der Mohrenstraße wird spanisch, italienisch, französisch und englisch gesprochen. So mag es auch DIW-Präsident Marcel Fratzscher, der Berlin als "kleines Abbild Europas bezeichnet". Das Institut sitzt in einem sanierten ­ ehemaligen Repräsentationsbau des amt­lichen DDR-Handels mit schwarzen gusseisernen Laternen im Bauhausstil an der Fassade. Hemdsärmlig präsentieren sich die Mitarbeiter. Nur Chef Fratzscher empfängt im tadellosen Anzug.



€uro am Sonntag: Herr Fratzscher, Europa kommt nicht aus der Krise. Jetzt diskutiert die EZB über Helikoptergeld, also über kostenlose Finanzspritzen für Privathaushalte. Ist das nicht das Ende jeder vernünftigen Geldpolitik?
Marcel Fratzscher:
Die Geldpolitik hat in den vergangenen Jahren Sachen gemacht, die wir uns nie hätten träumen lassen, Negativzinsen, der Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB). Das hat aber alles damit zu tun, dass Europa immer noch in der Krise ist. Deshalb brauchen wir nach wie vor eine geldpolitische Offenheit. Helikoptergeld wäre eine allerletzte Lösung. Die Idee ist per se nicht schlecht: So kann die EZB die Banken umgehen, um einen starken Nachfrage­impuls zu setzen, der das Potenzial hätte, die Konjunktur und die Inflation anzuheizen. Juristisch und organisatorisch wäre das Helikoptergeld aber problematisch.

Warum ist das überhaupt ein Thema für die EZB? Ist es Verzweiflung, weil ihr expansives Gelddrucken in der Realwirtschaft kaum etwas bringt?
Das Problem ist, dass viele Banken das Geld, das sie von der EZB erhalten, deshalb nicht weitergeben, weil sie gar nicht nachhaltig aufgestellt sind und zu viele Risiken und faule Kredite in den Büchern stehen haben. Das ist aber nicht die Schuld der EZB, sondern liegt letztlich an Versäumnissen der nationalen Regierungen und der EU. Wenn die europäische Politik verantwortungsvoll gehandelt hätte, dann wären wir gar nicht mehr in der Krise, dann hätten wir in Europa wieder Wachstum wie in den USA.


Wieso das?
Ein entscheidendes Manko ist, dass die Bankenunion immer noch nicht vollendet ist. Das heißt, es gibt noch immer eine Reihe von Instituten in Europa, die durchgefüttert werden müssen, wie aktuell in Italien zu sehen ist, wo die Regierung dafür sogar wieder Steuergelder verwenden will. Das ist ja das Pro­blem der Geldpolitik, dass die Banken nicht so funktionieren, wie sie sollten, und das billige Geld der EZB nicht in den Wirtschaftskreislauf weiterleiten. Wir brauchen die Bankenkonsolidierung. Banken, die nicht nachhaltig wirtschaften können, müssen abgewickelt werden.

Nicht nur in Italien bringt sich die Krise derzeit wieder in Erinnerung. Auch in Spanien und Griechenland. Ist ein Ende des Krisenmodus überhaupt in Sicht?
Es wird wirtschaftlich noch ein paar Jahre dauern, und so lange werden auch die Niedrigzinsen anhalten. Wir sind aber auf keinem schlechten Weg - abgesehen von Griechenland. Die Reformen in Irland, Portugal und Spanien greifen, das sind Erfolgsbeispiele. Und auch politisch müssen wir die EU vorantreiben, gemeinsame Strategien zur Entschuldung entwickeln und politisch den Menschen reinen Wein einschenken.


Dass Europa nicht über den Berg kommt?
Dass es zu Europa keine Alternative gibt. Deutschland wird auf Dauer nur wachsen, wenn Europa stark ist. Wir ­repräsentieren ein Prozent der Weltbevölkerung. Wir werden unsere Inte­ressen nicht global vertreten können, wenn wir nicht ein starkes Europa im Rücken haben.

Europa ist aber zerstritten.
Deutschland und Frankreich müssen vorangehen, eine Vision von Europa entwickeln und auch Einigkeit darüber erzielen wie die Konsolidierung der Haushalte aussehen soll. Da ist bisher keine Einigung in Sicht. Die muss kommen. Renationalisierung ist der falsche Weg, der nicht zu Wohlstand und Wachstum zurückführt.

Viele Menschen sehen das offenbar ­anders. Rechte Parteien sind auf dem Vormarsch, auch in Deutschland.
Das hat auch viel mit fehlender Chancengleichheit zu tun. Viele Menschen fühlen sich nicht nur abgehängt, sie sind es. 40 Prozent der Menschen hierzulande haben in Bezug auf Privatvermögen so gut wie nichts. Nirgendwo innerhalb der EU ist die Ungleichheit höher als in Deutschland Die soziale Marktwirtschaft funktioniert nicht mehr. Das beschert Rechtspopulisten Zulauf.

Wieso? Deutschland hat eines der höchsten Sozialbudgets innerhalb der EU. Kaum irgendwo sonst wird so viel umverteilt.
Der Sozialstaat funktioniert und sorgt mit starker Umverteilung für eine soziale Sicherung. Dass er das überhaupt in dem Maß tun muss, ist aber bereits ein Indikator dafür, wie schädlich die Ungleichheit hierzulande ist. Trotz ­Umverteilung schafft er es nicht, die ­Ungleichheit auf ein gesundes Maß zu beschränken.

Dass die Vermögenskonzentration zunimmt, ist weltweit der Fall. Wie kommen Sie darauf, dass das ausgerechnet in Deutschland so eklatant sein soll?
Es geht weniger um die zehn Prozent der Bevölkerung, bei denen hierzulande 60 Prozent des hiesigen Netto­vermögens konzentriert sind, sondern darum, dass die unteren 40 Prozent quasi nichts haben. In keinem Land innerhalb der EU ist die Ungleichheit so hoch, hat ein so hoher Anteil der Bevölkerung so gut wie nichts. Den Beweis liefern uns die Daten des Eurosystems, der Bundesbank und der anderen nationalen Zentralbanken. Die zeigen, dass die unteren 20 Prozent in Griechenland, Portugal oder Spanien mehr haben als in Deutschland.

Warum wollen dann so viele aus der EU nach Deutschland?
Weil die Menschen Arbeit suchen, und der Arbeitsmarkt ist der wohl größte Erfolg der deutschen Wirtschaftspolitik der letzten zehn Jahre, in dem wir die Arbeitslosenzahlen halbiert und seit 2010 fast drei Millionen Jobs neu geschaffen haben. Das macht Deutschland für Einwanderer aus der EU so attraktiv. Derzeit haben wir zudem rund eine Million offene Stellen. Doch das Gros der Jobs, die in den vergangenen Jahren ­geschaffen wurden, ist vor allem im ­unteren Lohnsegment entstanden. Die Lohnschere ist massiv auseinander­gegangen. Diejenigen, die geringe Qualifikationen haben, haben Reallohnverluste hinzunehmen gehabt, das heißt, dass diese Menschen kein Vermögen aufbauen können - und genau das ist das Problem.

Aber es ist doch gut, dass Reformen wie Hartz IV zu mehr Jobs geführt haben.
Die Hartz-IV-Reformen waren richtig, denn sie haben vielen Menschen die Chance gegeben, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen, wenn auch über ­prekäre Jobs, und so potenziell auch wieder aufzusteigen. Das Erste ist ge­lungen, das ist positiv, aber es gibt nur ­wenige, die sich wirklich haben verbessern können.

Ungleiche Entlohnung ist aber auch wichtig, um Leistungsanreize zu setzen und Wettbewerb zu schaffen.
Es wird immer niedrigere Einkommen geben, das ist unvermeidlich. Aber die Chance der sozialen Mobilität, also eine gute Bildung und Qualifikation zu erhalten und so aufsteigen zu können, bessere Einkommen zu erzielen, ist extrem wichtig. Bei der Frage der Ungleichheit kommt es auf die Dimensionen an. Gleichheit, wie sie in der DDR herrschte, ist sicherlich nicht wünschenswert. Wichtig ist aber, dass Ungleichheit fairen Wettbewerb widerspiegelt, Erfolg also honoriert wird, dass es sich lohnt, sich anzustrengen und Risiken einzu­gehen. Aber in den letzten 20 Jahren funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr, ist das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft vom möglichen Wohlstand für alle nicht mehr zu halten.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Entwicklung?
Es fehlt an sozialer Mobilität, weil viele Menschen keinen Zugang zu Bildung haben, so nur schlechte Jobs oder gar keine bekommen, auch wenn sie mehr leisten könnten. Es gibt internationale Studien von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) und dem Internationalen Währungsfonds, die zeigen, dass der Anstieg der Ungleichheit seit den 90er-Jahren wegen der fehlenden Entwicklung des Humankapitals in Deutschland insgesamt sechs Prozent an Wirtschaftswachstum gekostet hat. Das zeigt: Die fehlende Chancengleichheit ist schädlich für die deutsche Wirtschaft.

Diese Zahlen werden von Ihren ­Kollegen angezweifelt.
Nur von manchen in Deutschland. In der internationalen Ökonomie gibt es Nobelpreisträger wie Stiglitz und renommierte Forscher wie Piketty und Atkinson, die diesen Zusammenhang sehr klar sehen.

Verschärft die Zuwanderung nicht dieses Problem?
Es kommen ja auch gut qualifizierte Menschen zu uns. Etwa ein Viertel der syrischen Flüchtlinge hat einen Universitätsabschluss. Der Schlüssel zur Integration der Flüchtlinge heißt aber auch hier Aus- und Weiterbildung. Je schneller solche Qualifizierungen geschehen, desto eher sind die Flüchtlinge fit für den Arbeitsmarkt, dem sie zudem lange zur Verfügung stehen können, weil der größte Teil unter 25 Jahre alt ist. Das könnte sogar die Ungleichheit langfristig dämpfen.

Was bedeutet das für die staatlichen Renten? Sind die für kommende Generationen noch sicher?
Sicher ist nur, dass sie niedrig sein werden. Es macht keinen großen Unterschied, ob das Rentenniveau bei 43, 48 oder 50 Prozent liegt. Es bleibt für viele zu wenig, vor allem für die unteren 20 bis 30 Prozent.

Und welche Lösungen sehen Sie stattdessen?
Es gibt drei Ansätze, um das deutsche Rentensystem nachhaltig zu machen. Das Erste ist die Einführung einer Progression, bei der die unteren Einkommensbezieher mehr bekommen - so wie das in den meisten anderen Ländern auch ist. In Deutschland sollten die staatlichen Zuschüsse von über 80 Milliarden Euro zielgenauer auf die unteren Einkommensgruppen ausgerichtet werden. Das Zweite ist die Stärkung der privaten Vorsorge, die vor allem auch für die unteren Einkommensgruppen besser staatlich gefördert werden sollte.

Und drittens ...
… sollte der Renteneintritt flexibi­lisiert werden. Wer länger arbeiten will, sollte das tun können, und es sollte auch von der Arbeitszeit und Art von Arbeit einen flexibleren Übergang in die Rente geben, der auch die Bedürfnisse derer berücksichtigt, die schwerer körperlicher Arbeit nachgehen.

Und wie sieht es mit den Deutschen aus, die zu den 40 Prozent zählen, die nach Ihrer Aussage nichts haben? Wie kann deren Potenzial gehoben werden?
Es geht um die oben angesprochenen Arbeitsmarktreformen, aber vor allem darum, bessere Bildungschancen zu schaffen, das betrifft alle Formen der Aus- und Weiterbildung. Das fängt schon im Elternhaus an. Sozial- und einkommensschwache Haushalte leben oft in entsprechender Nachbarschaft, wo die Bildungsangebote niedriger sind, die Kindergärten überlastet und wo die Kinder keine adäquaten Bildungschancen bekommen. Das muss sich ändern, auch später, wenn es um Qualifizierungen im Berufsleben geht.

Wie das?
Qualifizierte und gut gebildete Arbeitnehmer sind produktiver, erleichtern Unternehmen Investitionen, führen zu Jobs und mehr Einkommen. So entsteht durch die Bildung der bisher benachteiligten Schichten zusätzliches Wachstum. Außerdem ist Steuergerechtigkeit wichtig, denn nicht nur in Deutschland wird Arbeit höher besteuert als Vermögen.

Es gibt aber auch eine Reihe von Menschen mit guter Bildung, die kein Vermögen haben.
In der Tat. Wir Deutschen sparen schlecht, das ist auch ein Grund für die niedrigen Vermögen von vielen. Wir legen zu einseitig an, der typische Deutsche hat sein Geld auf dem Sparkonto, wo er derzeit eher enteignet wird. Doch die Deutschen scheuen die Aktien und viele auch das Eigenheim. In Deutschland leben nur 40 Prozent der Haushalte in den eigenen vier Wänden. In Süd­europa sind das zwischen 70 und 90 Prozent, was dort auch die höheren Vermögensquoten bei den ärmeren Schichten erklärt.

Wer jetzt Vermögen aufbauen will, was sollte der angesichts der Niedrigzinsen tun?
Wer langfristig denkt, sollte auf jeden Fall einen Teil in Aktien anlegen, und wenn er denn kann, über ein ­Eigenheim nachdenken - die richtige Strategie, sein Erspartes zu streuen und nicht alles auf eine Karte zu setzen.

Vita:

Politischer Ökonom

Marcel Fratzscher ist ein politischer Ökonom mit Leib und Seele. Studiert hat der Rheinländer in Kiel, Oxford, Harvard und Florenz. Während der Asien-Krise Ende der 90er-Jahre beriet er als Harvard-Mitarbeiter die Regierung Indonesiens. Zwischen 2001 und 2012 arbeitete er bei der EZB. Der 45-Jährige ist seit 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makro­ökonomie und ­Finanzen an der Berliner Humboldt-Universität.

Das Buch

Kampf für mehr Gleichheit

In seinem viel diskutierten Buch "Verteilungskampf" analysiert Marcel Fratzscher die Ursachen der seiner Meinung nach wachsenden Chancenungleichheit in Deutschland. Dieses Thema inte­ressiere ihn besonders, weil es das wirtschaftliche Potenzial der Gesellschaft bremse, so Fratzscher.

Bildquellen: B. Dietl/DIW Berlin, Diego Barbieri / Shutterstock.com