Formel für mehr Generationen-Gerechtigkeit
Die Europäer werden immer älter. Das bringt die Rentensysteme des überschuldeten Kontinents an ihre Grenzen. Verhaltensökonom Dominik Enste fordert deshalb, die Renten stärker an die Lebenserwartung zu koppeln.
von Dominik Enste, Gastautor von Euro am Sonntag
Die Staatsschuldenkrise führt zu einem immer stärkeren Verteilungskonflikt in Europa. Dabei verlaufen die Fronten längst nicht mehr nur zwischen den Staaten im Norden und den Problemstaaten im Süden Europas. Der Reformdruck belebt auch alte Konfliktlinien im Inneren der Nationalstaaten. Die bekannteste: Jung gegen Alt.
Besonders deutlich wird der Generationenkonflikt bei der Debatte um die Reform der Rentensysteme, die im Zuge der nötigen Konsolidierung der europäischen Staatshaushalte geführt wird. Ein wichtiger Schritt zum langfristigen Abbau der Schulden wäre eine Reform der Rentensysteme, die wegen der Alterung der Gesellschaft in Europa ohnehin an ihre Grenzen stoßen. Doch dieser Schritt ist unpopulär und wird besonders von jenen abgelehnt, die bald in den Ruhestand gehen oder Rentner sind. Und es besteht die Gefahr, dass die Rentner Entscheidungen zulasten der jungen Generationen durchsetzen können. Denn je mehr die Gesellschaft altert, desto größer wird die Macht der Alten, Reformen zu blockieren.
Rentenalter: ein Relikt aus der
Bismarck-Zeit
Dabei ist eine Reform der Rentensysteme allein wegen des demografischen Wandels unumgänglich. In Deutschland wurde die Rentenversicherung von Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführt. Ab 1891 konnte man mit 70 Jahren in Rente gehen. Damals ein Alter, das so gut wie niemand erreichte — die Lebenserwartung von Männern lag im Durchschnitt bei rund 40 Jahren. 1916 wurde die Rentenaltersgrenze auf 65 Jahre gesenkt. Heute liegt die Lebenserwartung bei rund 78 Jahren, das Renteneintrittsalter soll schrittweise auf 67 Jahre erhöht werden.
Obwohl die Lebenserwartung heute also rund doppelt so hoch ist wie im 19. Jahrhundert, können die Deutschen früher in Rente gehen als damals. Ein Grund, weshalb die Rentensysteme immer schwerer zu finanzieren sind. 1891 lag der Beitragssatz zur Rentenversicherung bei 1,7 Prozent, heute sind es 19,8 Prozent. Die Rentenbeiträge haben sich also mehr als verzehnfacht.
Geben ist einfacher
als Nehmen
Dennoch gibt es erhebliche Widerstände, das Rentenalter anzuheben. Dies gilt auch für andere Länder mit teilweise noch großzügigeren Regelungen, zum Beispiel Italien oder Frankreich. Eine Umfrage in Deutschland für das Roman-Herzog-Institut in München zeigt, dass die Menschen mehrheitliche jede Reform — sei es längere Lebensarbeitszeit, höhere Beiträge oder geringere Renten — ablehnen und den Status quo gern zementieren möchten. Nur ist das mit den sinkenden Geburtenraten nicht möglich.
Diese Widerstände lassen sich vermeiden, wenn rechtzeitig präventiv agiert wird. Rücklagen für die Rente lassen sich leichter aufbauen, wenn sie über geringere Zuwächse finanziert werden, also die Rentenerhöhung statt zwei nur ein Prozent beträgt. Dann entsteht kein Verlustempfinden bei den Rentnern, da sie noch einen kleinen Zuwachs bekommen haben.
Neue Formel: Lebenserwartung
minus zehn
Der zweite Ansatzpunkt: Eine dynamische Rentenformel könnte jene Entlastung schaffen, die der demografische Wandel und die wirtschaftlichen Daten erfordern. Statt eine feste Zahl für die Regelaltersgrenze festzulegen, könnte eine durchschnittliche Rentengarantie für zehn Jahre festgelegt werden. Die neue Formel wäre also Regelaltersgrenze gleich durchschnittliche Lebenserwartung abzüglich zehn Jahre. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von im Moment 78 läge das Rentenalter somit bei 68 Jahren. Die Regelaltersgrenze würde in Zukunft mit der Lebenserwartung steigen.
Damit wäre der Rentendebatte das ständige Geschacher um das Rentenalter entzogen. Jedem zukünftigen männlichen Rentner zehn Jahre Ruhestand zu finanzieren, dürfte kein Problem sein. Außerdem wäre die neue Rentenformel ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit: Im Durchschnitt würde künftig jede Generation etwa gleich lang Rente beziehen.
zur Person:
Dominik Enste leitet im Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) das Kompetenzfeld Institutionen- ökonomik und ist Vertretungsprofessor an der Fachhochschule Köln. Zusammen mit IW-Direktor Michael Hüther hat er zuletzt das Buch „Zur Psychologie der Freiheit — Ordnungspolitik und Verhaltensökonomik“ veröffentlicht.