Was bleibt?

24.04.25 14:40 Uhr

Mit dem Tod von Papst Franziskus am Montag beginnt für die katholische Kirche eine ungewisse Ära, auf die er diese während seiner Lebzeit vorzubereiten versuchte. Schon bald werden die Kardinäle nach Rom einberufen, um im Konklave seinen Nachfolger zu wählen. Sie stehen nun vor der Frage, ob Franziskus’ Vision – eine barmherzige Kirche, in der alle willkommen sind – weiterhin der richtige Weg ist oder ob ein grundsätzlich anderer Ansatz gefragt ist, womöglich einer, der sich stärker an den Forderungen des christlichen Glaubens orientiert.Bevor das Konklave beginnt, verbringen die Kardinäle bis zu zwei Wochen in Rom, um auszuloten, was für ein Papst nun gebraucht wird – für die Kirche sowie für die Welt insgesamt. Irgendwann werden sie sich dann die Frage stellen: „Wer von uns?“ Erst danach ziehen sich die 135 wahlberechtigten Kardinäle – also jene unter 80 Jahren – in die Sixtinische Kapelle zurück, um dort in Abgeschiedenheit ihre Entscheidung zu treffen.Die Kardinäle werden sich des historischen Moments bewusst sein. In den letzten Monaten des Pontifikats von Franziskus schien der Westen ebenso zu zerfallen wie die regelbasierte Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden war. Die Welt erscheint heute wie ein Dschungel, in dem das Recht des Stärkeren gilt und in dem imperiale Zentren – die USA, China, Russland – immer heftiger um Einfluss ringen und dabei die Souveränität kleinerer Nationen missachten. Die Kardinäle werden auch die sozialen Zerfallserscheinungen innerhalb vieler Länder bedenken: den schwindenden gesellschaftlichen Anstand, die wachsende Wut, die hinter dem Aufstieg nationalistischer Populisten steht, die zunehmende Gewalt sowie die Aussicht auf weitere Kriege. Sie werden sich fragen, was all das von der Kirche – und vom Papsttum – verlangt.Auch wenn viele Kardinäle um die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit besorgt sind, dürften die wenigsten dem Niedergang der liberalen Ordnung nachtrauern. Viele sehen darin vielmehr die logische Folge von Individualismus und der Verherrlichung des Marktes. Viele geben dem westlichen Liberalismus die Schuld an sozialen Ungleichheiten, moralischen Verfehlungen, dem Zerfall institutioneller Strukturen und der Vernachlässigung des Gemeinwohls.Die meisten Kirchenmänner fühlen sich traditionell der Arbeiterklasse verbunden.Die meisten Kirchenmänner fühlen sich traditionell der Arbeiterklasse verbunden. Sie teilen den Zorn einfacher Menschen darüber, dass das Spiel zugunsten der Gebildeten und Reichen (und zum Nachteil der Armen) manipuliert scheint. In Afrika, Asien und Lateinamerika, aus denen fast die Hälfte der wahlberechtigten Kardinäle stammt, richtet sich die Kritik auch gegen eine marktorientierte Globalisierung. Viele von ihnen sind überzeugt, dass der Westen seine liberalen Werte dem Rest der Welt aufgezwungen hat, wodurch Vertrauen, Traditionen, Gemeinschaft und die Familie zerstört wurden.Gleichzeitig dürften nur wenige Kardinäle von den neuen „starken Männern“ beeindruckt sein, die sich in die Fahnen von Nation und Religion hüllen. Viele von ihnen werden Donald Trump, Elon Musk und ihresgleichen als Nihilisten betrachten – Leute, die zerstören, aber nicht aufbauen können. Sie sind entsetzt über die Hetze gegen Migranten und über die ignorante Ablehnung von Umweltschutz, beides Kernanliegen der katholischen Soziallehre unter Franziskus, der vier Fünftel der wahlberechtigten Kardinäle ernannt hat. Sie werden in dem neuen Autoritarismus wahrscheinlich ein Zeichen dafür sehen, dass der Staat nicht mehr – wie von Augustinus gefordert – die „libido dominandi“, den Drang zur Herrschaft, zügelt und blicken skeptisch auf die Verehrung von Autokraten.Die zentrale Frage, vor der die Kardinäle stehen, lautet daher: Wie kann die Kirche ihren Auftrag in dieser neuen Weltlage schützen und weiterentwickeln? Denn während der liberale Staat zwar gleichgültig gegenüber dem Glauben war, der Kirche aber zumindest karitatives Wirken zugestand, verlangen die neuen Autokraten von ihr, dass sie ihre heidnischen Ideologien absegnet – aber den Mund hält, wenn es um Schwache und Fremde geht.Als langjähriger Beobachter des Vatikans und der Kirche glaube ich, dass die Kardinäle einen Papst wählen werden, der klare Grenzen zieht – zur Verteidigung der Freiheit der Kirche, ihre Werte zu verkünden, und gegen jede politische Vereinnahmung ihrer Lehre. Manche werden womöglich Parallelen zu den Zwanzigern und Dreißigern des letzten Jahrhunderts ziehen, als ein Papst die Kirche durch eine Epoche abnehmender Demokratien und aufkommender Autokratien führte. Damals, zur Zeit des Totalitarismus und der Vorboten des Zweiten Weltkriegs, verteidigte Pius XI. (1922–1939) eine pluralistische Zivilgesellschaft gegen die erdrückende Macht des Staates. Viele Kardinäle dürften der Meinung sein, dass der neue Papst Ähnliches leisten muss.Das Vermächtnis von Franziskus wird bei den Entscheidungen der Kardinäle eine wichtige Rolle spielen.In einem der wichtigsten Lehrdokumente des 20. Jahrhunderts betonte Pius XI., dass das Gesetz nicht nur die Autonomie der Kirche, sondern auch aller sogenannten intermediären Institutionen schützen müsse – von Schulen über Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften bis hin zu zivilgesellschaftlichen Organisationen. Diese gehörten weder Markt noch Staat, sondern gingen aus dem Glauben und dem Engagement von Menschen hervor. Einen direkten Nachhall dieser Lehre sah man in dem Brief, den Franziskus im Februar an die US-Bischöfe richtete – eine implizite Reaktion auf die Kritik von Vizepräsident J. D. Vance, der dem Papst über Ostern einen Besuch abstattete. Vance hatte die Kirche wegen ihrer Unterstützung für Migrantinnen und Migranten kritisiert.Das Vermächtnis von Franziskus wird bei den Entscheidungen der Kardinäle eine wichtige Rolle spielen – nicht nur seine Reformen, Lehren und Prioritäten, sondern auch sein Stil, die Art und Weise, wie er das Evangelium verkörperte und lebte. Bereits im März 2013, nach dem Rücktritt von Benedikt XVI. und vor dem Konklave, das Franziskus wählte, machten die Kardinäle deutlich, dass eine Reform der Strukturen und der Kultur des Vatikans Priorität habe. Franziskus verstand dies als Auftrag. Heute ist der Vatikan weitgehend frei von den Skandalen der Benedikt-Ära. Zu seinen größten Errungenschaften zählt eine neue Verfassung für den Vatikan, das Ergebnis jahrelanger Beratungen und Überarbeitungen. Viele Kardinäle werden fordern, dass sein Nachfolger diese Reformen festigt und fortführt.Manche wünschen sich womöglich auch einen Papst, der Brücken schlägt – zu jenen Gruppen, die unter Franziskus enttäuscht waren: etwa zu Traditionalisten und Konservativen in den USA oder zu progressiven Kräften in Deutschland. Und nach dem ersten lateinamerikanischen Papst der Geschichte, der den Blick auf die Ränder der Welt richtete, könnten manche eine Rückbesinnung auf Europa fordern. Möglicherweise sehen sie heute eine stärkere wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Europäischen Union, die in einem Geist katholischen Humanismus gegründet wurde, und der Kirche.Was auch immer sonst die Prioritäten der Kardinäle sein mögen – wahrscheinlich wird Franziskus’ Idee der „Synodalität“ eine zentrale Rolle spielen. Damit ist eine alte kirchliche Praxis gemeint: das gemeinsame Zusammenkommen, Zuhören, Abwägen und Entscheiden. Franziskus hat diese Praxis in radikal inklusiver Weise erneuert, indem er alle Gläubigen zur Beteiligung einlud. Die Kardinäle könnten zu dem Schluss kommen, dass genau dies derzeit das stärkste Zeichen der Hoffnung ist, das die Kirche der Welt geben kann.Diese „Kultur der Begegnung“, wie Franziskus sie nannte, mag in den Augen der Mächtigen belanglos erscheinen. Doch sie beruht auf einer Einsicht, die jenen, die nur nach Macht streben, unverständlich bleibt: die unantastbare Würde jedes Menschen, die Notwendigkeit, allen zuzuhören – besonders den Marginalisierten – und die Geduld, auf Einvernehmen zu warten. All das ist zentral für die Heilung eines zerrissenen gesellschaftlichen Gefüges.In einer Welt voller Spannungen dürfte für die Kardinäle eines im Zentrum stehen: Was auch immer man sich sonst von einem neuen Papst wünschen mag – die drängendste Frage für die Menschheit ist, wie wir miteinander umgehen.Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal