Im Hintertreffen
Europa befindet sich inmitten einer ausgeprägten Industrierezession: Produktionsrückgänge, Investitionszurückhaltung und ein großer globaler Wettbewerbsdruck bestimmen das wirtschaftliche Klima. Viele Unternehmen und ihre Beschäftigten sehen sich mit strukturellen Herausforderungen konfrontiert – etwa hohen Energiepreisen und erheblichen Investitionsrisiken. Gleichzeitig wächst die Sorge über eine zunehmende Innovationslücke zwischen Europa, China und den USA. Ein technologischer Rückstand, insbesondere in Schlüsseltechnologien der grünen und digitalen Transformation, stellt Europa vor große Herausforderungen: Es geht um nicht weniger als die Sicherung der industriellen Basis – und damit von Wohlstand und guter Beschäftigung.Kurz- wie mittelfristig ist Europas wirtschaftliche Zukunft daher von großer Verunsicherung geprägt. Doch Panik ist ein schlechter Ratgeber – sie hat schon oft in den Abgrund statt in den sicheren Hafen geführt. Gerade in solchen Zeiten kommt einer vorausschauenden und klugen Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle zu: Sie muss kurzfristig Stabilität gewährleisten und zugleich langfristig die Weichen für eine zukunftsfähige, widerstandsfähige und innovative Wirtschaft stellen.In den aktuellen wirtschafts- und industriepolitischen Debatten in Europa erleben altbekannte Rezepte eine Renaissance: Steuersenkungen, Bürokratieabbau und Lohnzurückhaltung werden als „neue“ Allheilmittel gegen wirtschaftliche Stagnation ins Feld geführt. Doch diese Konzepte sind keine zukunftsweisende Trendwende, sondern verblasste Ideen aus den 1990er Jahren – einer Ära mit völlig anderen geopolitischen, ökonomischen, technologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – von der digitalen Transformation über den grünen Strukturwandel bis hin zur Neuordnung globaler Lieferketten und geopolitischer Machtblöcke – lassen sich damit sicher nicht bewältigen. Statt des Rückgriffs auf überholte Instrumente braucht es mutige, zukunftsgerichtete Strategien, die auf Innovation, Qualifizierung und nachhaltige Standortpolitik setzen.Die industrielle Landschaft Europas steht wegen der globalen Megatrends Digitalisierung und Dekarbonisierung, der demografischen Herausforderung sowie der aktuellen geopolitischen Verschiebungen vor einem tiefgreifenden Wandel. Der rasante Fortschritt in der Robotik und der Künstlichen Intelligenz verändert Produktionsprozesse von Grund auf: Maschinen übernehmen zunehmend komplexe Aufgaben und kommunizieren miteinander, Produktionsketten werden effizienter. Länder wie China investieren massiv in diese Entwicklung – mit vollautomatisierten Fabriken, humanoiden Robotern, intelligenten Logistiksystemen und einer Vorreiterrolle bei Flugdrohnen und Flugtaxis. Während europäische Industriecluster noch über Pilotprojekte diskutieren, testet China viele Technologien bereits im Regelbetrieb im urbanen Raum.Länder wie China und die USA investieren strategisch und mit hohem Tempo in grüne Technologien.Auch die USA setzen neue Maßstäbe – insbesondere in den Bereichen digitale Plattformtechnologien und Künstliche Intelligenz. Mit milliardenschweren Investitionen in generative KI, Cloud-Infrastrukturen und die Halbleiterentwicklung definieren amerikanische Unternehmen Standards, an denen sich die europäische Industrie messen lassen muss. Tech-Giganten wie NVIDIA, Google oder OpenAI treiben Innovationen voran, die längst tief in industrielle Anwendungen vordringen – von der Produktionsplanung über digitale Zwillinge bis zur vorausschauenden Wartung. Gelingt es Europa nicht, mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten, drohen neue Abhängigkeiten: von Technologien, digitalen Infrastrukturen und Datenkompetenz. Im globalen Wettlauf um digitale Technologien, Wertschöpfung und Arbeitsplätze droht Europa so den Anschluss zu verlieren – und zum Spielball fremder Interessen zu werden.Gleichzeitig ist der Umbau hin zu einer klimaneutralen Industrie längst keine Option mehr, sondern eine ökologische wie ökonomische Notwendigkeit. Investitionen in grüne Energien, Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Produktionsverfahren tragen nicht nur zum Klimaschutz bei und helfen, Ressourcen zu schonen – sie sind auch ein zentraler Faktor für die Widerstandsfähigkeit und Attraktivität des Wirtschaftsstandorts. Während Europa mit dem Green Deal und dem Net-Zero Industry Act ambitionierte Ziele verfolgt, geraten europäische Unternehmen zunehmend unter Druck. Denn Länder wie China und die USA investieren strategisch und mit hohem Tempo in grüne Technologien. So dominiert China bereits heute weite Teile der globalen Lieferkette für Solartechnik und Batterien, während Europa weiterhin um die strategische Souveränität in Schlüsseltechnologien ringt.Der Inflation Reduction Act (IRA) war der Versuch der USA, auf diese Entwicklungen zu reagieren. Mit Steuergutschriften, Förderungen und Investitionsanreizen sollten die Produktion von Wasserstoff, Batterien, Wind- und Solartechnologie sowie die Einrichtung klimaneutraler Industrieprozesse gefördert und Unternehmen in die USA gelockt werden. Ob und inwieweit die neue Administration diese Entwicklungen stoppen oder zurückdrehen kann, wird sich noch zeigen. Bisher hat sich vor allem Texas – eine politische Hochburg der Republikaner – als führend im Ausbau erneuerbarer Energien erwiesen. Inzwischen produziert Texas mehr Wind- und Solarstrom als jeder andere Bundesstaat.Mit Blick auf diese Entwicklungen wird vor allem eines deutlich: Eine erfolgreiche grüne und digitale Transformation der europäischen Wirtschaft braucht drei Dinge – Tempo, Innovationskraft und den politischen Mut zur Umsetzung. Doch Technologie, politischer Wille und der Ausbau von Infrastrukturen allein genügen nicht. Es sind die Menschen, die den Wandel der europäischen Wirtschaft vorantreiben müssen – in Werkshallen, Laboren, Start-ups und Bildungseinrichtungen.Die im politischen Diskurs oft beschworene Technologieoffenheit darf dabei nicht zur Ausrede für Stillstand werden.Investitionen in Köpfe, in Bildung, Weiterbildung und Forschung sind daher der entscheidende Hebel für eine zukunftsfähige Industrie. Nicht ohne Grund hat Mario Draghi in seinem Bericht an die Kommission für ein wettbewerbsfähiges Europa betont, dass nicht die Lohnstückkosten das zentrale Problem Europas darstellen, sondern die bestehende Innovationslücke gegenüber den USA und China. Nur mit exzellent ausgebildeten Fachkräften und interdisziplinären Kompetenzen kann Europa im globalen Wettbewerb langfristig bestehen und gleichzeitig die ökologische wie soziale Transformation erfolgreich gestalten.Die Wirtschaftspolitik in Europa darf vor diesem Hintergrund nicht länger bloße Krisenreaktion oder Standortverwaltung sein – sie braucht eine Mission. Eine solche missionsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgt nicht nur kurzfristige Wachstumsziele, sondern fokussiert auf zentrale gesellschaftliche Zukunftsaufgaben: Klimaneutralität, technologische Souveränität und soziale Stabilität in Zeiten tiefgreifenden Wandels.Grundvoraussetzung dafür ist nicht weniger, sondern mehr Kooperation. Gemeinsame Industrieinitiativen, koordinierte Investitionen in strategisch bedeutsame Technologien und Infrastrukturen, die Stärkung des europäischen Binnenmarkts sowie ein konsequenter Fokus auf Fähigkeiten, Kompetenzen und das Wissen der Menschen – all das ist der Schlüssel zu einer selbstbewussten und widerstandsfähigen europäischen Wirtschafts- und Industriepolitik.Es geht einer missionsorientierten Wirtschaftspolitik also nicht mehr nur um das „Wie viel“ und das „Wer“, sondern vor allem um das „Wozu“. Ziel ist eine gemeinsame wirtschaftspolitische Kraftanstrengung, um gezielt Herausforderungen zu lösen, Innovationen – sowohl technologischer als auch sozialer Art – zu fördern und ausgetretene Pfade zu verlassen. Klare politische Leitplanken für die gewünschte Entwicklungsrichtung sind entscheidend: Sie bieten Sicherheit in stürmischen Zeiten, reduzieren Investitionsrisiken, geben Orientierung und stärken das Vertrauen in den eingeschlagenen Kurs. Die im politischen Diskurs oft beschworene Technologieoffenheit darf dabei nicht zur Ausrede für Stillstand werden. Was die Industrie braucht, ist Klarheit – verlässliche Signale, wohin die Reise geht.Regulierung, Förderungen, öffentliche Beschaffung und vieles mehr können den Wandel unterstützen, sofern sie aufeinander abgestimmt und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind. Gleichzeitig muss die soziale Dimension des Wandels mitgedacht werden, denn jede Veränderung bringt sowohl Gewinner als auch Verlierer hervor. Eine gerechte Verteilung der Transformationslasten – der Kosten und der Betroffenheit der Veränderung – durch gezielte Förderung strukturschwacher Regionen, starke Weiterbildungssysteme und soziale Absicherungssysteme der Sozialstaaten sind dafür unabdingbar.Eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik entsteht nicht durch den Rückzug des Staates, sondern durch seine strategische Präsenz, durch Gestaltungswillen und Kooperation. Es ist höchste Zeit, uns dieser Tatsache erneut bewusst zu werden – und unsere Wirtschaftspolitik sowie die Institutionen, die sie umsetzen, entsprechend auszurichten.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal