Die Welt im Chaos

22.04.25 13:30 Uhr

Die Welt ist ein Scherbenhaufen. Während US-Präsident Donald Trump den globalen Handel mit seinem Strafzöllen auf den Kopf stellt und Amerikas Bündnisse neu ordnet, versuchen Staats- und Regierungschefs verzweifelt, darauf angemessen zu reagieren. Doch viele sind schlecht auf solche Erschütterungen vorbereitet: Überall auf der Welt haben Regierungen angesichts wachsender Unzufriedenheit Wahlen verloren oder sich nur knapp an der Macht halten können. Von den Vereinigten Staaten bis Uruguay, von Großbritannien bis Indien erfasste 2024 eine Anti-Establishment-Welle die Demokratien der Welt. Aber nicht nur diese stecken in der Krise. Auch China kämpft mit sozialen Unruhen und wirtschaftlicher Instabilität. Konflikte sind heutzutage global.Es gibt viele Erklärungsansätze für diesen beklagenswerten Zustand. Einige sehen in raschen sozialen Veränderungen – insbesondere in Fragen von Migration und Geschlechteridentität – den Auslöser eines kulturellen Backlashs. Andere argumentieren, dass Eliten bei der Bewältigung der Pandemie versagt oder sich zu weit von der Bevölkerung entfremdet hätten, was die Unterstützung für Anti-Establishment-Kräfte und autoritäre Anführer befeuert habe. Ein weiteres Argument lautet, dass algorithmengesteuerte soziale Medien die Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungstheorien erleichtern und so die Gesellschaften polarisieren.An all diesen Theorien ist sicher etwas dran. Aber hinter dem heutigen Chaos steckt eine noch größere Einflusskraft: die wirtschaftliche Stagnation. Die Welt erlebt ein langfristiges Nachlassen der Wachstumsraten, das in den 1970er-Jahren begann, sich nach der globalen Finanzkrise 2008 verschärfte und bis heute anhält. Mit niedrigem Wachstum, sinkender Produktivität und einer alternden Erwerbsbevölkerung steckt die Weltwirtschaft momentan in einer Sackgasse. Diese wirtschaftliche Notlage ist der Hintergrund für die politischen und sozialen Konflikte auf der ganzen Welt.Der Zustand der G20-Staaten, jener Zusammenschluss der größten Volkswirtschaften, sagt viel über die wirtschaftliche Gesundheit der Welt aus. Die Daten sind ernüchternd: Acht dieser Länder sind seit 2007 inflationsbereinigt um weniger als zehn Prozent gewachsen. Vier weitere liegen nur knapp darüber. Einige Länder wie Indien, Indonesien und die Türkei konnten ihre Wachstumsraten zwar halten, aber die meisten G20-Staaten leiden unter anhaltender wirtschaftlicher Schwäche.Früher wuchsen die G20-Volkswirtschaften regelmäßig um zwei bis drei Prozent pro Jahr, was zu einer Verdopplung der Einkommen innerhalb von 25 bis 35 Jahren führte. Heute liegen die Wachstumsraten vielerorts nur noch bei 0,5 bis ein Prozent, was bedeutet, dass es 70 bis 100 Jahre dauert, bis sich die Einkommen verdoppeln – zu langsam, als dass die Menschen in ihrem Leben einen Fortschritt spüren könnten. Die Bedeutung dieses Wandels kann kaum überschätzt werden: Stagnation muss nicht flächendeckend spürbar sein, um Erwartungen zum Einsturz zu bringen. Wenn die Menschen nicht mehr daran glauben, dass ihre Lebensverhältnisse oder die ihrer Kinder sich verbessern, erodiert das Vertrauen in Institutionen und die Unzufriedenheit wächst.In dienstleistungsbasierten Volkswirtschaften steigen Produktivitätsraten nur sehr langsam.Warum also ist das Wachstum so drastisch eingebrochen? Ein Grund ist der weltweite Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungswirtschaft. Damit geriet der wichtigste Motor des Wirtschaftswachstums ins Stocken: die Produktivitätssteigerung. Produktivität – die Leistung pro Arbeitsstunde – kann im verarbeitenden Gewerbe rasch steigen. Eine Autofabrik, die robotergesteuerte Fertigungsstraßen einführt, kann beispielsweise ihre Produktion verdoppeln, ohne mehr Mitarbeiter einzustellen, vielleicht sogar einige entlassen. In der Dienstleistungswirtschaft hingegen lässt sich Effizienz nur schwer steigern. Ein gut besuchtes Restaurant braucht mehr Bedienungen. Ein Krankenhaus, das mehr Patienten versorgt, benötigt zusätzliche Ärzte und Pflegekräfte. In dienstleistungsbasierten Volkswirtschaften steigen Produktivitätsraten daher nur sehr langsam.Dieser tiefgreifende Wandel, der seit Jahrzehnten im Gange ist, trägt einen Namen: Deindustrialisierung. In Amerika und Europa kennen wir die Folgen: den Verlust von Industriearbeitsplätzen und eine sinkende Nachfrage nach industriellen Erzeugnissen. Doch die Deindustrialisierung ist kein Phänomen der reichen Länder allein. Sie erfasst die gesamte G20 und drückt nahezu überall auf die Wachstumsraten. Heute sind rund 50 Prozent der weltweiten Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor beschäftigt.Es gibt noch einen weiteren Grund für die globale Stagnation: das verlangsamte Bevölkerungswachstum. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem Geburtenboom, der die Nachfrage nach Wohnraum und Infrastruktur anheizte und den wirtschaftlichen Aufschwung beförderte. Demografen gingen lange davon aus, dass sich die Geburtenrate auf dem Niveau der Reproduktionsrate stabilisieren würde, also bei etwa zwei Kindern pro Familie.  Doch tatsächlich fiel sie vielerorts darunter – erst, weil Familien weniger Kinder bekamen, und inzwischen, weil überhaupt weniger Menschen Familien gründen. Diese Entwicklung betrifft mittlerweile Länder wie Malaysia, Brasilien, die Türkei und sogar Indien.Für die Wirtschaft ist das ein großes Problem. Schrumpfende Erwerbsbevölkerungen bedeuten kleinere zukünftige Märkte, was Unternehmen davon abhält, zu expandieren – gerade in Dienstleistungsökonomien, wo neben begrenztem Produktivitätswachstum die Kosten tendenziell steigen. Investitionen bleiben aus. Gleichzeitig belastet der wachsende Anteil älterer Menschen gegenüber Erwerbstätigen die sozialen Sicherungssysteme und zwingt Staaten, entweder Steuern zu erhöhen, Schulden aufzunehmen oder Leistungen zu kürzen.In diesem stagnierenden Umfeld haben Unternehmen ihre Strategien geändert. Statt Gewinne in Expansion, Neueinstellungen und Innovation zu investieren, setzen viele auf Aktienrückkäufe und Dividenden und geben damit finanziellen Ausschüttungen Vorrang, die den Aktienkurs und die Managergehälter in die Höhe treiben. Das Ergebnis ist ein Teufelskreis aus wachsender Ungleichheit, schwacher Nachfrage und niedrigem Wachstum. Dieses Muster zeigt sich weltweit. Kein Wunder, dass der Internationale Währungsfonds bereits von einem „lauen Jahrzehnt“ warnt – und das noch vor Trumps neuem Handelskrieg.Roboter werden die globale Wirtschaft nicht retten.Was ist zu tun? Für einige ist künstliche Intelligenz der Weg aus der Stagnationsfalle. Sollte KI die Effizienz in arbeitsintensiven Bereichen wie dem Gesundheitswesen und Bildung verbessern können, könnte dies das Wachstum ankurbeln. Doch bislang sind die Produktivitätsgewinne durch generative KI, bei allem Hype, begrenzt geblieben – und es zeichnet sich eher eine Verlangsamung der Fortschritte ab als eine Beschleunigung. Roboter werden die globale Wirtschaft nicht retten.Andere setzen auf Reindustrialisierung durch strikten Protektionismus. Das zumindest scheint der Plan der Trump-Regierung zu sein. Doch auch hier sind Zweifel angebracht. Der Rückgang der Industriearbeitsplätze lag nicht nur am internationalen Handel. Selbst Exportgiganten wie Deutschland und Südkorea verzeichnen einen Rückgang industrieller Beschäftigung. Zudem bieten die neuen Industriesektoren – etwa Halbleiter, E-Mobilität und erneuerbare Energien – nur wenige Arbeitsplätze. Die Ära, in der die Industrie massenhaft Jobs schuf, ist vorbei.Wenn sich das Produktivitätswachstum nicht wesentlich steigern lässt, könnte eine stärkere Bevölkerungsentwicklung helfen. Das ist der Gedanke hinter den Geburtenförderungsmaßnahmen, die die Menschen dazu auffordern, mehr Kinder zu bekommen. Doch selbst Länder mit großzügiger Familienpolitik, wie Schweden oder Frankreich, erleben sinkende Geburtenraten. Die andere Option ist eine hohe Einwanderung, die nach wie vor das wirksamste Mittel ist, um das Wirtschaftswachstum in alternden Gesellschaften aufrechtzuerhalten. So wuchsen die USA in den letzten Jahrzehnten stärker als Japan oder Deutschland, auch dank höherer Immigration. Aber angesichts der aktuellen migrationsfeindlichen Stimmung und eines Präsidenten Trump wirkt diese Lösung derzeit fast utopisch.Es gibt jedoch zwei plausible Möglichkeiten, auf die Stagnation zu reagieren: Die erste besteht darin, dass die Länder mehr ausgeben und Defizite in Kauf nehmen. Viel wird über die relative Stärke der US-Wirtschaft im Vergleich zu Europa gesprochen. Der zentrale, oft unterschätzte Grund dafür ist einfach: Die USA verzeichnen seit 2009 hohe Haushaltsdefizite – durchschnittlich über sechs Prozent des BIP –, während Europa hauptsächlich auf Haushaltsdisziplin gesetzt hat.Defizitfinanzierte Investitionen – etwa in die grüne Transformation – könnten das Wachstum ankurbeln. Selbst in Europa, wo haushaltspolitische Zurückhaltung Tradition hat, bereiten Regierungen derzeit ein Ausgabenprogramm nach amerikanischem Vorbild vor – allerdings konzentrieren sich diese Ausgaben größtenteils auf die nationale Sicherheit und den Ausbau des Militärs und weniger auf die wirtschaftliche Erneuerung.Der zweite Ansatz ist die Umverteilung. Jahrzehntelang galt die Devise, dass die Anhäufung von Wohlstand an der Spitze Wachstum von oben nach unten befördere – ein Versprechen, das sich als falsch erwiesen hat. Stattdessen könnten Staaten höhere Steuern für Reiche einführen und Einkommen an breitere Bevölkerungsschichten umverteilen. Das wäre zwar politisch schwer durchzusetzen, aber es würde große Vorteile mit sich bringen, indem es die Verbrauchernachfrage ankurbeln und die Märkte im In- und Ausland stärken würde.Das Ziel sollte nicht nur darin bestehen, das Einkommensniveau anzuheben, das Studien zufolge zunehmend von Glück unabhängig ist, sondern auch stabilere und gerechtere Gesellschaften in einer Welt mit langsamerem Wachstum aufzubauen. Dazu gehören Investitionen in bessere Lebensverhältnisse: in die Wiederherstellung von Ökosystemen, den Ausbau von Infrastruktur und die Schaffung von Wohnraum. Dies könnte auch Entwicklungsländern ermöglichen, faire und verlässliche Bedingungen für exportgetriebenes Wachstum zu nutzen.Natürlich wäre auch dann keine weltweite Stabilität garantiert. Neue politische Konflikte würden entstehen. Aber angesichts der aktuellen Lage scheint es einen Versuch wert zu sein.Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal