„Das größte Hindernis bleiben die US-Sanktionen“
Die Fragen stellte Hussam Baravi.Die westlichen Sanktionen gegen Syrien wurden ursprünglich verhängt, um das Assad-Regime zu treffen. Warum sind sie bis heute in Kraft?Tatsächlich wurden die Sanktionen mit dem Ziel verhängt, das Assad-Regime unter Druck zu setzen. Allerdings im Kontext von Bashar al-Assads gewaltsamer Niederschlagung friedlicher Proteste der Syrerinnen und Syrer, die politische Veränderungen forderten. Die Situation hat sich jedoch grundlegend verändert. Aus den Protesten entwickelte sich ein vielschichtiger Bürgerkrieg und ein regionaler Konflikt mit Stellvertreterkriegen, der Beteiligung islamistischer Extremistengruppen und dem Einsatz chemischer Waffen.Oft ist es so, dass Sanktionen, die in spezifischen politischen Situationen verhängt werden, im Laufe der Zeit ein Eigenleben entwickeln und sich von ihrem ursprünglichen Zweck lösen. Ein typisches Beispiel ist der Fall des Sudan: Dort wurden die Sanktionen ursprünglich wegen der Verbrechen des al-Baschir-Regimes gegen die eigene Bevölkerung verhängt. Letztlich wurden sie aber erst aufgehoben, nachdem der Sudan seine diplomatischen Beziehungen zu Israel normalisiert hatte. Das zeigt: Sanktionen können aus ganz anderen Gründen aufgehoben werden, als jenen, aus denen sie ursprünglich eingeführt wurden.Was für Auswirkungen hatten die Sanktionen auf Syrien – und wie bewerten Sie ihre heutige Wirkung auf die Wirtschaft des Landes nach dem Sturz Assads?Sanktionen wirken sich nie neutral auf eine Volkswirtschaft aus. Ihr Einfluss wird in westlichen Medien und von westlichen Politikern allerdings häufig überhöht. Im Westen neigen wir dazu, zu glauben, dass das, was wir tun – oder lassen – entscheidend sei. Das ist jedoch eine Selbstüberschätzung unserer tatsächlichen Wirkung auf andere Länder.Dennoch darf man ihre Konsequenzen nicht kleinreden. Syrien ist heute vom internationalen Finanz- und Handelssystem isoliert. Für syrische Unternehmen und Institutionen ist es extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Transaktionen mit dem Ausland durchzuführen. Wenn man weder bezahlen noch Geld empfangen kann, ist Handel kaum möglich. Trotzdem sind die meisten Waren in Syrien noch erhältlich. Aber große Investoren lassen sich unter diesen Bedingungen kaum gewinnen. Das wiederum belastet die Wirtschaft und erschwert den Wiederaufbau erheblich – und zwar so lange, bis die Sanktionen aufgehoben werden.Oft werden die Sanktionen als zentrales Hindernis für den Wiederaufbau genannt. Wie bewerten Sie den Ansatz der EU und anderer internationaler Akteure, die Durchsetzung von Sanktionen mit dem Bedarf an humanitärer Hilfe und dem Wiederaufbau nach dem Krieg in Einklang zu bringen?Die teilweise Lockerung der EU-Sanktionen – ebenso wie die der Schweiz und Großbritanniens – ist grundsätzlich eine positive Entwicklung, auch wenn man ihre Wirkung nicht überschätzen sollte. Denn das größte Hindernis bleiben die US-Sanktionen, insbesondere das Verbot für das amerikanische Finanzsystem, mit syrischen Banken zu arbeiten. Da der weltweite Handel zu einem großen Teil in US-Dollar abgewickelt wird und alle Dollar-Transaktionen über New York laufen müssen, wird dadurch der gesamte internationale Bankensektor faktisch vom Handel mit Syrien abgehalten. Selbst wenn die EU also bestimmte Einschränkungen aufhebt, ändert sich an der Gesamtlage wenig, solange die USA an ihren Finanzsanktionen festhalten. Syrien würde dann weiterhin weitgehend vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen bleiben – was Außenhandel und Investitionen extrem erschwert.Die EU-Maßnahmen können punktuell etwas bewirken.Dennoch: Die EU-Maßnahmen können punktuell etwas bewirken. So hat die EU etwa bestimmte Sanktionen auf Investitionen in Infrastruktur und den Umgang mit der syrischen Zentralbank gelockert. Dadurch ist begrenztes Engagement wieder möglich. Unternehmen wie Siemens haben etwa mit der Reparatur von Kraftwerken begonnen, da solche Projekte unter die Grenze der erlaubten Investitionen in Infrastruktur fallen.Zudem meiden zwar Geschäftsbanken aus Angst vor US-Sanktionen weiterhin jeden Kontakt mit Syrien, aber einige europäische Entwicklungsbanken – wie die deutsche KfW oder die Europäische Investitionsbank – haben mehr Spielraum. Sie können direkt mit der syrischen Zentralbank zusammenarbeiten und Zahlungen abwickeln, ohne auf die üblichen kommerziellen Kanäle angewiesen zu sein. Und sie scheinen dazu auch bereit zu sein, unter anderem weil sie das Risiko unter dem aktuellen EU-Rechtsrahmen als tragbar einschätzen.Insofern ermöglichen die Entscheidungen der EU begrenzte Transaktionen. Für einen großangelegten Wiederaufbau reicht das bei weitem nicht aus. Dafür müssten die USA ihre Finanzsanktionen aufheben. In kleinem Rahmen wird unter diesen Bedingungen dennoch ein gewisser Wiederaufbau stattfinden können.Auch andere EU-Maßnahmen wie das Auftauen von Vermögenswerten staatlicher syrischer Banken wurden beschlossen. Hat das wirtschaftlich überhaupt eine Bedeutung oder handelt es sich eher um Symbolpolitik?Das ist eher symbolisch als wirklich substanziell. Die EU hat angekündigt, die Vermögenswerte von vier staatlichen syrischen Banken freizugeben: der Industriebank, der Volkskreditbank, der Sparkasse und der Bank der Landwirtschaftskooperative. Allerdings hatten diese Banken nie nennenswerte Auslandsvermögen, sie durften von syrischer Seite aus überhaupt keine Devisengeschäfte betreiben.Die beiden Banken hingegen, die über Auslandsvermögen verfügen – die Kommerzbank Syriens und die Immobilienbank – sind weiterhin eingefroren. Auch die syrische Zentralbank – obwohl sie nicht mehr vollständig auf der Sanktionsliste steht – hat ihre Auslandsguthaben nicht zurückerhalten. Diese Maßnahmen sind also eher „halbe Sachen“. Sie deuten auf eine gewisse Dialogbereitschaft hin, doch wirtschaftlich bleibt ihr Effekt begrenzt. Die zentralen Finanzsanktionen bestehen ja weiter.Die USA haben zuletzt signalisiert, dass sie keine klare Syrien-Strategie verfolgen. Ihr Handeln scheint vor allem von regionalen Dynamiken geprägt. Was bedeutet das für die Zukunft der Sanktionen?Derzeit ist nicht abzusehen, was die USA konkret in Bezug auf Syrien vorhaben. Die Signale deuten jedoch darauf hin, dass die Sanktionen auf absehbare Zeit bestehen bleiben. Einige enge Verbündete von Donald Trump – etwa der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman oder der türkische Präsident Erdoğan – könnten eine Lockerung der Sanktionen befürworten. Andere wiederum, wie Benjamin Netanjahu, dürften deren Beibehaltung unterstützen. Aber unabhängig von solchen regionalen oder internen Einflüssen scheint die dominante Haltung derzeit zu sein: Alles bleibt, wie es ist.Das hat weitreichende Konsequenzen. Kein Land, auch nicht aus der Golfregion, ist bereit, unter diesen Bedingungen ernsthaft in Syrien zu investieren. Selbst Katar, früher ein enger Unterstützer der syrischen Opposition, agiert heute deutlich vorsichtiger, nicht zuletzt wegen der Kritik, die es aufgrund seiner Unterstützung der Hamas erfahren hat, die von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Ähnliches will man wohl im Zusammenhang mit Hayat Tahrir al-Sham (HTS) vermeiden, die ebenfalls auf der US-Terrorliste steht.Daher werden Finanzströme wohl weiterhin fast ausschließlich über internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen laufen.Daher werden Finanzströme wohl weiterhin fast ausschließlich über internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen laufen, im Wesentlichen von der EU finanziert. Doch auch dieses Modell hat Grenzen, zumal unklar ist, wie lange die EU bereit sein wird, diese Rolle zu übernehmen. Die Golfstaaten haben bisher jedenfalls kaum Interesse gezeigt, Gelder über multilaterale Strukturen wie die UN zu kanalisieren. Kurz gesagt: Es mag punktuelle wirtschaftliche Verbesserungen in Syrien geben. Deren Ausmaß hängt jedoch ganz entscheidend davon ab, ob die US-Sanktionen aufgehoben werden. Falls ja, wird ein echter Wiederaufbau möglich. Falls nicht, bleibt er fragmentarisch und schleppend. Das ist die entscheidende Trennlinie.Für europäische und deutsche Entscheidungsträger liegt die Herausforderung darin, humanitäre Hilfe und Wiederaufbau zu unterstützen, ohne den politischen Druck auszuhebeln. Zielgerichtete Maßnahmen, etwa die Schaffung sicherer Zahlungswege oder die Fokussierung auf essenzielle Infrastrukturen, bieten realistische Ansätze innerhalb der derzeitigen Zwänge. Doch ohne weitergehende politische Bewegung – vor allem in den USA – wird Syriens wirtschaftliche Isolation anhalten, und der Wiederaufbau bleibt bestenfalls Stückwerk.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal