Euro am Sonntag-Meinung

Demografie und Wirtschaft: Über das Heute und das Morgen

13.08.17 15:00 Uhr

Demografie und Wirtschaft: Über das Heute und das Morgen | finanzen.net
Christian Gattiker

Das Thema Demografie ist für Wirtschaft und Finanzmärkte von herausragender Bedeutung und wird dennoch nicht hinreichend verstanden. Wie man mit dem Problem umgehen sollte.

von €uro am Sonntag-Gastautor Christian Gattiker

Bekannt ist, dass Wachstum, Inflation und Zinsen in den 70er-Jahren wegen demografischer Entwicklungen stiegen und seither ein gegenläufiger Trend zu beobachten ist. Ob sich in weiterer Zukunft erneut Inflation einstellt, ist ungewiss, aber es gibt Hinweise in diese Richtung.



In meinen langjährigen Auseinandersetzungen mit dem Thema Demografie sind mir zwei Dinge klar geworden: Erstens kann sich die Demografie ausgesprochen langsam entwickeln (ein Blick auf die heutige Zeit oder die letzten 40 Jahre genügt), und zweitens geht es bei den wirtschaftlichen Auswirkungen nicht um die Größe der Bevölkerung, sondern um die Zahl der Erwerbstätigen in einer Volkswirtschaft.

Werfen wir einen Blick auf die Informationen über die strukturellen Veränderungen sowohl bei den Wachstums­raten als auch bei der Erwerbsbevölkerung. Beide Kurven verlaufen synchron. Als die ersten Babyboomer in den späten 60er-Jahren in den Arbeitsmarkt eintraten, gingen die Wachstumsraten nach oben, genauso wie die Teuerungsraten und die Renditen von Staatsanleihen.


In einfachen Worten: Eine Schar junger Arbeitskräfte wurde Teil der Wirtschaftswelt, was sozusagen einen strukturellen Angebotsschock auf dem Arbeitsmarkt auslöste. Dies bedeutete eine höhere Produktion und in Verbindung mit den Löhnen dieser jungen Arbeitskräfte einen Wachstumsanstieg. Die Produktion wurde nicht schnell genug hochgefahren, was zu höheren Preisen ab den frühen 70er-Jahren führte.

Prognostizierte Entwicklung muss nicht wirklich stimmen
Wie sieht die Lage heute aus, in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre? In Gesprächen mit Anlegern zeigt sich bei den meisten die Ansicht, dass wir es zumindest in den Industrieländern mit einer "alten" Erwerbsbevölkerung zu tun haben. Das Paradebeispiel für diese Einschätzung ist Japan. Allgemein besteht der Eindruck, dass alle japanischen Arbeitskräfte inzwischen im Ruhestand sind. Damit lassen sich dann bequem all die Missstände in der heutigen Wirtschaft Japans erklären. Wenn wir uns jedoch an die Tatsachen halten, ergibt sich eine ganz andere Sichtweise.


Fakt 1: Japan und auch Deutschland, die Länder mit dem höchsten Altersmedian der Bevölkerung, sind alles andere als "alt". Die Arbeitnehmerschaft ist lediglich reif. Fakt 2: Sowohl in Japan als auch in Deutschland beträgt der Median der Erwerbsbevölkerung 48 Jahre (Median = 50 Prozent der Bevölkerung sind älter und die anderen 50 Prozent jünger).

Ich würde behaupten, dass dies für eine Wirtschaft optimal ist. Deshalb halte ich mich eher zurück, wenn es darum geht, die kränkelnde Wirtschaft Japans mit der Demografie zu erklären. Die ungelöste Finanzkrise der frühen 90er-Jahre scheint mir als Erklärung besser geeignet zu sein. Der Vergleich mit Deutschland und seinem jüngsten Wirtschaftswunder zeigt die Schwäche der demografischen Argumente auf - diese sind die gleichen wie bei Japan. Dasselbe gilt für viele andere Länder der industrialisierten Welt.

Damit kommen wir zu den Herausforderungen, denen sich die meisten Ökonomen im Umgang mit demografischen Prognosen gegenübersehen. Welche Konsequenzen ergeben sich in nächster Zeit für Wachstum, Teuerungsrate und Anleihezinsen? Was die heutige demografische Lage betrifft, müssen wir einsehen, dass niemals zuvor die Menschheit mit einer Altersstruktur der Bevölkerung wie heute in den Industrie­ländern konfrontiert war. Ganz zu schweigen davon, wie es in 30 Jahren aussehen wird. Aus der Vergangenheit lässt sich also nicht ableiten, was vor uns liegt. Dennoch gibt es einen wichtigen Hinweis: Inflation und steigende An­leiherenditen stehen vielleicht wieder auf der Tagesordnung.

Die aktuelle und wahrscheinlich auch die folgenden Generationen müssen eventuell unter größerer Ungewissheit Entscheidungen treffen. Dies liegt daran, dass die prognostizierte Entwicklung der Demografie weltweit unsicher ist. Wenn wir statt der niedrigen die hohe Prognose heranziehen, erhalten wir bezüglich der Weltbevölkerung eine Differenz von mehr als zwei Milliarden. Bei der heutigen Weltbevölkerung von 7,5 Milliarden Menschen macht diese Differenz fast 30 Prozent aus. Anders gesagt: Entweder befindet sich die Weltbevölkerung bereits nahe ihres Zenits (niedrige Prognose) oder sie wird in den nächsten 35 Jahren um weitere 30 Prozent wachsen (hohe Prognose).

Wie kann man unter diesen Umständen vorausplanen? Wir könnten noch weitere Unsicherheiten auflisten, zum Beispiel einen strukturellen technolo­gischen Wandel, eine veränderte Wirtschaftsstruktur, Veränderungen im Welthandel, Migration und vieles mehr. Tatsache bleibt: Planungen anzustellen scheint fast unmöglich; nichts zu tun ist aber auch keine Option. Die Welt wird sich also samt ihren Bewohnern weiter drehen. Und Regierungen, Unternehmen wie auch Einzelpersonen werden weiterhin das tun, was sie schon in den letzten 300 Jahren recht gut konnten: laufend planen mit zwischenzeitlichen Kurskorrekturen, falls sich Fakten und Abhängigkeiten ändern.

Demografie sagt mehr über das Heute als über das Morgen
Nach 25 Jahren Suche komme ich zu den folgenden bescheidenen Erkenntnissen: Die Demografie sagt Ihnen mehr über heute (und gestern) als über morgen. Mit einer wachsenden Erwerbsbevölkerung, wie es bei den Babyboomern in den 70er-Jahren der Fall war, entstand ein Umfeld mit hohen Wachstums- und Inflationsraten sowie hohen Zinssätzen. Umgekehrt lässt sich der Rückgang von Wachstum, Inflation und Anleiherenditen in den letzten 30 Jahren durch die Verlangsamung des Wachstums der Erwerbsbevölkerung erklären. Wenn man in die Zukunft blickt, gibt es Anzeichen dafür, dass sich diese Situation umkehrt und in einer "alten" Gesellschaft (von der wir noch mindestens ein Jahrzehnt entfernt sind) möglicherweise Inflationsdruck entsteht, zur Überraschung jener, die im Zusammenhang mit der Demografie Japan und die Deflation ins Feld führen.

Die positive Seite der Demografie ist, dass sich kleine Veränderungen auf­addieren und auf längere Sicht große Veränderungen nach sich ziehen. Erwarten Sie also nicht, dass die Zinssätze noch weiter fallen, setzen Sie nicht da­rauf, dass es in absehbarer Zeit einen Zusammenbruch bei den Staatsschulden geben wird, und erwarten Sie vor 2035 keine Hyperinflation. Die Dinge dauern womöglich viel länger, als Sie vielleicht denken.

Kurzvita

Christian Gattiker
Chefstratege bei der Bank Julius Bär & Co
Gattiker studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Bern, anschließend machte er eine Ausbildung zum Chartered Financial Analyst (CFA) sowie zum Chartered Alternative Investment Analyst (CAIA). Seit 2008 leitet er das Research bei Julius Bär. Die Julius Bär Gruppe mit Hauptsitz in Zürich gehört zu den führenden börsengehandelten Finanzdienstleistern der Schweiz.

Bildquellen: Robert Lang Photography/Getty Images, Bank Julius Bär & Co