Diese Wahlversprechen der Brexit-Befürworter sind bereits in Rauch aufgegangen
Dass manches Wahlversprechen eine Wahl nicht lange überlebt, ist kein Geheimnis. Aber kaum eine Partei hat es bislang geschafft, ihre Versprechen so schnell zu kassieren, wie die Pro-Brexit-Front in Großbritannien.
Es waren vor allem ihre vollmundigen Versprechungen, die die "Leave"-Fraktion beim Referendum in Großbritannien letztendlich ins Ziel getragen haben. Die Entscheidung für den Brexit am letzten Donnerstag - sie war bei vielen Briten eine Entscheidung für die versprochene Migrationskontrolle, für mehr Geld für das Gesundheitssystem und für einen schnellen Austritt aus der EU. "Let’s take back control" hatte sich das Brexit-Lager auf die Fahnen geschrieben. Ob diese Kontrolle nun nach dem Brexit-Entscheid auch tatsächlich vom "Leave"-Lager übernommen werden soll - etwa von Camerons potenziellem Nachfolger Boris Johnson - da sind sich die Briten plötzlich nicht mehr so sicher. Denn einige der plakativen Wahlversprechungen nach einem Brexit waren bereits schneller wieder gestrichen oder relativiert, als die Stimmen beim Brexit-Votum ausgezählt waren.
"Ein bisschen Kontrolle darüber, ganz grob …"
Das Thema, das dem Brexit-Lager wohl die meisten "Yes"-Stimmen verschafft hat, war das Thema Migration. Mit flammenden Worten verlangten die EU-Gegner ihr Land zurück: "We want our country back" und "Let’s take back control" waren die Schlachtrufe, die wohl am meisten skandiert wurden. Großbritannien solle die Kontrolle über die Zuwanderung - vor allem im Falle der Flüchtlinge, aber auch bei Arbeitssuchenden aus dem EU-Ausland - zurückgewinnen. Doch die Stimmenauszählung ist noch in vollem Gange, da muss der Europaabgeordnete Daniel Hannan im Frühstücksfernsehen von BBC News bereits kräftig zurückrudern. "Alles, was wir wollen, ist ein bisschen Kontrolle darüber, ganz grob, wer zu uns ins Land kommt", antwortet er der verdutzten Moderatorin in der Sendung.Dass die uneingeschränkte Zuwanderungskontrolle einen Preis hat, dürfte inzwischen nämlich auch bei den Brexit-Sympathisanten die Runde gemacht haben. Als leuchtendes Vorbild hatten sich die EU-Gegner das Modell in Norwegen auserkoren. Das Land ist kein EU-Mitglied, genießt jedoch die Privilegien des EU-Binnenmarktes und unterhält enge wirtschaftliche Beziehungen zu Europa. Dies jedoch im Tausch gegen die Akzeptanz von Auflagen der EU - wie etwa der Personenfreizügigkeit. Dass die EU nicht gewillt ist, den Briten nach dem Brexit "das Beste aus beiden Welten" ohne Auflagen zu überlassen, wie David Cameron vor einigen Wochen noch verkündete, hat Brüssel bereits klar gemacht.
Die Sache mit den 350 Millionen Pfund an Brüssel …
Sie prangte an einem roten Bus, der vom Brexit-Lager quer durchs Land gefahren wurde: Die Zahl "350 Millionen Pfund". So viel, behaupteten die EU-Gegner, zahle Großbritannien wöchentlich an Brüssel. Was so leider falsch ist, wie sich schnell herausstellte. Im Jahr 2014 zahlte das Finanzministerium in Großbritannien rund 9,9 Milliarden Pfund netto ein - nach heutigem Wechselkurs wären dies 12,5 Milliarden Euro. Heruntergebrochen auf eine Woche, haben die Briten folglich 190 Millionen Pfund an Brüssel gezahlt - nicht 350 Millionen.Doch unabhängig davon - dieses Geld wollte die "Leave"-Fraktion lieber ins Gesundheitswesen stecken. "Let’s fund our NHS instead" prangte auf dem roten Wahlkampfbus, der durch das Land tourte. Die Millionen, die wöchentlich an Brüssel gingen, sollten doch in den National Health Service (NHS) und damit in das britische Gesundheitssystem gesteckt werden. Diesem Vorhaben erteilte jedoch der prominente Brexit-Sympathisant und Ukip-Chef Nigel Farage ebenfalls bei "Good Morning Britain" noch während der Stimmenauszählung eine jähe Absage. Er gab zunächst zu, dass es ein "Fehler" des "Leave"-Lagers gewesen sei mit dieser Zahl zu werben. Ferner könne er außerdem auch nicht garantieren, dass so viel Geld ins Gesundheitssystem fließen werde. Seinen eigenen Kopf zieht Farage danach noch geschwind aus der Schlinge, in dem er behauptet: "Ich hätte dieses Versprechen nie gegeben", schließlich sei er auch kein Teil der offiziellen "Leave"-Kampagne gewesen. Was zwar stimmt, als seriöse Entschuldigung jedoch eher wenig taugt.
Der schnelle EU-Austritt hat keine Eile
Während dem Wahlkampftrommeln für den Brexit kündigten die EU-Gegner mehrmals an, nach dem Referendum und dem erhofften Brexit-Entscheid unverzüglich Artikel 50 des EU-Vertrages zu aktivieren, um die zweijährigen Verhandlungen zum endgültigen Austritt unmittelbar zu starten. Dennoch blieb der Aufschrei nach Camerons Ankündigung nach seinem Rücktritt, wonach erst sein Nachfolger Artikel 50 in Kraft setzen solle, im "Leave"-Lager nahezu vollständig aus. Mehr noch: Der als potenzieller Nachfolger gehandelte Boris Johnson sagte wenig später selbst: "Es ist bedeutsam zu betonen, dass es jetzt keinen Grund zur Eile gibt." Dass die Ansage des "Leave"-Lagers vor einiger Zeit noch anders gelautet hat, das ist der Brexit-Fraktion offenbar sehr bewusst. So fand etwa der Abgeordnete des Unterhauses und Brexit-Befürworter Liam Fox gegenüber dem britischen "Mirror" die deutlichen Worte: "Vor diesem Referendum wurden viele Dinge gesagt, die wir vielleicht noch einmal überdenken sollten. Artikel 50 in Kraft zu lassen, gehört dazu."Der späte "Bregret"
Nicht wenige Briten erklären nach dem Brexit-Entscheid öffentlich Reue und würden sich am liebsten noch einmal um-entscheiden. Die versprochenen und wieder aufgehobenen Wahlversprechen könnten dafür mitverantwortlich sein. Doch Hinweise auf ein zweites Referendum oder anderweitige Bestrebungen, den Brexit noch einmal abzuwenden, gibt es von offizieller Seite bislang nicht.Schneller als erwartet, muss das britische Volk nun allerdings wohl demnächst Steuererhöhungen hinnehmen. Am Dienstag kündigte der britische Finanzminister George Osborne an, die Regierung werde einschneidende Schritte zur Sicherung der Finanzstabilität ergreifen müssen, um die Folgen des Votums für den Brexit zu bewältigen. Auf die Frage von BBC hin, ob dies auch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen einschließe, antwortete Osborne: "Ja, absolut." Dieses Versprechen dürfte - zum Leidwesen der Briten - sehr bald schon eingelöst werden.
Christina Fischer, Redaktion finanzen.net
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