Stuttgart 21 - ein Missverständnis?
Führende Ökonomen sehen im Streit um das Bahnhofsprojekt vor allem einen Kommunikations-GAU. Das Ökonomen-Barometer stagniert und liegt im Oktober unter dem Niveau des Vormonats.
von Wolfgang Ehrensberger, Euro am Sonntag
Walter Krämer von der Uni Dortmund ist sich beim Krach um das Bahnprojekt Stuttgart 21 sicher: „Was hier gerade abläuft, ist Morgenthau II – freiwillige Deindustrialisierung“, sagt Krämer in Anspielung an Pläne der Amerikaner, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in ein Agrarland umzuwandeln.
Damit vertritt er unter den führenden deutschen Ökonomen allerdings eine Randmeinung. Die meisten Volkswirte sind zwar der Ansicht, dass das Scheitern derartiger Infrastrukturprojekte tendenziell das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen könnte, aber „man sollte solche Effekte nicht dramatisieren“, bringt es Christoph Schmidt vom RWI auf den Punkt. „Die deutsche Verkehrsinfrastruktur ist so gut ausgebaut, dass jedes Projekt sie letztlich nur marginal verbessert.“
Bei der Ursachenforschung erkennt Stephan Klasen (Göttingen) ein „Public-Relations-Desaster“. Die Verantwortlichen hätten sich nicht bemüht, sich mit den Kritikern ernsthaft auseinanderzusetzen – eine unter den Experten weitverbreitete Einschätzung. Ulrich van Suntum (Münster) macht dagegen die Ignoranz der Kritiker verantwortlich: „Deutschland ist auf einem problematischen Weg in die Nimby-Republik („not in my backyard“, „nicht vor meiner Haustür“; Anm. d. Red.). Alle wollen sauberen Strom und umweltfreundlichen Verkehr, aber niemand will den Preis dafür zahlen.“
Ökonomen wie Robert Schwager (Göttingen) schlagen bei derartigen Großprojekten künftig Volksabstimmungen vor. Schärfere Gesetze lehnen die meisten Experten auch mit Blick auf den Schutz der Bürgerrechte ab.
Eine knappe Mehrheit der Ökonomen rechnet mit einem Absturz oder zumindest einem weiteren Abwärtstrend bei der Dollarentwicklung (Oliver Landmann, Freiburg). Die Volkswirte sehen mögliche negative Folgen vor allem für die deutsche Exportwirtschaft (Thomas Apolte, Münster, Marco Bargel, Postbank). Insgesamt jedoch wird die deutsche Wirtschaft als „robust“ eingestuft. „Sie hat Euroaufwertungen in der Vergangenheit gut weggesteckt. Ich erwarte wenig negative Konsequenzen“, sagt Andreas Freytag (Jena). Ähnlich sieht es Lutz Arnold (Regensburg).
Nahezu einig sind sich die Ökonomen, dass der Landesbankensektor gründlich zusammengestutzt werden muss. Stefan Maly (Cortal Consors) und Ansgar Belke (Duisburg-Essen) vermissen bei den Häusern tragfähige Geschäftsmodelle. Friedrich Heinemann (ZEW Mannheim) hält die Übernahme durch eine Privatbank für praktikabel. Die Mehrheit der Experten befürwortet eine Reduktion von derzeit acht auf ein bis zwei Institute. Überhaupt keine Existenzberechtigung hingegen gestehen Michael Heise (Allianz) und Juergen von Hagen (Bonn) den Landesbanken zu. „Diese Banken sind in einer modernen Volkswirtschaft so überflüssig wie ein Kropf“, findet von Hagen.
Die Kommentare der Volkswirte finden Sie hier (PDF)
Die Mehrheit der befragten Wissenschaftler, insgesamt 55 Prozent, hat sich für eine Begrenzung der Bonuszahlungen in staatlich gestützten Banken ausgesprochen, vor allem deshalb, weil derartige Zahlungen politisch nicht vermittelbar seien. „Das Risiko, dass dann gute Leute abwandern, muss man eingehen“, sagt Martin Gasche (Mannheim). Immerhin 30 Prozent lehnen eine solche Begrenzung der Boni jedoch ab. „Ein genereller Eingriff in privatwirtschaftliche Vergütungsstrukturen ist nicht zu rechtfertigen, obwohl die Boni überzogen erscheinen“, sagt Hermann Locarek-Junge (Dresden). „Das Risiko tragen ja nicht die Mitarbeiter, sondern die Aktionäre.“
Das Ökonomen-Barometer des Nachrichtensenders n-tv und der Zeitung €uro am Sonntag lag im Oktober unter dem Niveau des Vormonats. Die Einschätzung der aktuellen Lage ging um gut vier Prozent auf 63 Punkte zurück. Die Erwartungskomponente für die kommenden zwölf Monate reduzierte sich um fast acht Prozent auf 59 Punkte. Damit ist im zweiten Monat die Prognose niedriger als der aktuelle Wert, ein Zeichen für mittelfristige Stabilisierung des Barometers.
Für das Ökonomen-Barometer wurden vom 5. bis 13. Oktober 2010 über 300 Volkswirte in Banken, Uni-Forschungseinrichtungen und Wirtschaftsverbänden befragt.