Kopf der Woche

Konjunkturforscher: „Prognosen haben Unsicherheitsfaktoren“

12.04.10 06:00 Uhr

Anlageentscheidungen ­beruhen auf Konjunktur­prognosen. Zuletzt sind die Zweifel an der Zuver­lässig­keit der Vorhersagen aller­dings gewachsen. €uro am Sonntag sprach mit HWWI-Konjunkturfor­scher Michael Bräuninger über die Probleme seiner Zunft.

von Oliver Ristau, Euro am Sonntag

€uro am Sonntag: Im Fall von Griechenland haben aber auch diese Kont­rollen offenbar versagt.
Bräuninger: Das stimmt. Insofern bleiben immer Unsicherheiten be- ­ste­hen. Uns als Konjunkturforscher bleibt letztendlich keine andere Mög­lichkeit, als auf Daten zu ver­trauen, die die Staaten uns vermitteln.

Aber haben nicht viele Staaten ein poten­zielles Interesse, etwa mit geschönten Daten Investoren und internationale Fi­nanz­organisationen bei der Kredit- und Kapitalvergabe zu beeindru­cken?
Das sehe ich nicht. Kein Investor und keine Bank gibt ei­nem Staat nur aufgrund guter Zahlen Kapital. Sie werden sich im Land umsehen und vor Ort genaue Daten über die Wirtschafts­verfassung be­schaffen. Fällt dann der Betrug auf, ist der Staat erst recht diskreditiert. Griechenland war ein spezieller Fall. Die wollten einfach beim Euro dabei sein, hatten aber die Bedingungen nicht erfüllt und des­halb ein starkes Interesse an einer falschen Statistik. Dass das nicht in Zweifel gezogen wurde, war sicher­lich ein Fehler. Aber es bleibt ein Sonderfall.

Was kann die Europäische Union sonst noch tun?
Bei Griechenland schaltet sich nun auch Eurostat ein. Wir würden es ohnehin begrüßen, wenn die EU-Statistikbehörde noch mehr Kontrollrechte und Einsicht­möglichkeiten bekäme. Auch wenn viele Erhebungsmethoden schon ­ver­einheitlicht sind, ist eine weitere Har­monisierung wünschenswert, um Fälle wie Griechenland künftig eher zu erkennen. Noch werden etwa Ar­beitslose in den einzelnen Staaten unterschiedlich definiert und gezählt.

Gibt es nicht in einigen Ländern auch politische Gründe für frisierte volkswirt­schaftliche Statistiken?
Ja, das war historisch bei den Staaten des früheren Ost­blocks, also der Sowjetunion und den Verbündeten Osteuropas wie der DDR, der Fall. Dort wurden die Sta­tistiken massiv geschönt mit dem Ziel, besser als der Westen dazustehen. Es ging ja um einen Wettbewerb der po­litischen und ökonomischen Systeme. Wer solche Ziele verfolgt, mani­puliert auch die volkswirt­schaftli­chen Statistiken. Das geht aber nur dort, wo Verfahren, mit de­nen Daten erhoben und aus­gewertet werden, nicht transparent sind.

Dieses Problem trifft teilweise auch auf China und andere Schwellenländer zu. Muss man auch heute noch die Sorge haben, dass die Daten zum Wirt­schafts­wachstum den politischen Wunschvorstellungen der Regierung angepasst werden?
Wir haben letztlich keine andere Wahl, als uns auf diese Angaben zu verlassen. Wir können die chinesischen Daten auch nicht besser machen. Aber wir prüfen, ob die Zahlen, die wir für Deutschland haben, zusammen mit den externen Statistiken ein konsistentes Bild ergeben. Wenn also China ein hohes Wachstum meldet, müssen auch die Exportraten in Deutschland anstei­gen. Das ist etwa für 2009 klar zu sehen, weshalb auch das in China verkündete Wachstum zumindest in dieser Hinsicht plausibel scheint.

Entdecken Sie denn auch Ungereimtheiten im Datenmaterial?
Es gibt hin und wieder Einzelfälle oder bestimmte Zeiten, in denen die Daten für uns nicht nachvollziehbar sind. Oft werden diese hinterher von offizieller Seite tat­säch­lich revidiert. Das finden wir aber in allen Ländern, auch in Deutschland. In China ist wie in allen Schwellen­ländern die Datenlage allerdings grundsätzlich schlechter. Es gibt viel weniger Quartalszahlen.

Die offiziellen Statistiken werden rückwirkend oft erheblich korrigiert. Sind die Daten unzuverlässig?
Die Datenlage ist im­mer mit Unsicherheit behaftet. Die Revisionen sind aber vor allem ein Ausdruck intensiver statistischer Auswertungen tiefgehender Erhe­bungen. Das braucht Zeit. Zügig ge­meldete Daten enthalten oft eine hohe Fehlerquote. Das wird sich auch kaum verhindern lassen, selbst wenn in Zukunft die Datenanalyse weiter optimiert wird. Häufig treten Abwei­chungen bei besonders kurzfristig gemeldeten Daten wie etwa dem Ar­beitsmarkt auf. Hier gibt es auch noch nachträgliche Meldungen zu den tatsächlichen Beschäftigungs­verhältnissen.

Diese Abwei­chungen erzeugen an den Kapital­märkten oft heftige Irritationen und davon ausgehend auch Kursaus­schläge.
Das ist ein generelles Problem der Börse, wo es zu einer Überbewertung von Einzeldaten kommen kann. Wohl nicht, weil die Investoren diesen Daten selbst einen hohen Stellenwert beimessen, son­dern, weil jeder denkt, dass „der Markt“ sie für wichtig hält. Dadurch entwickelt sich etwa bei diesen Ar­beitsmarktdaten eine gewisse Eigen­dynamik, die durch ihre Inhalte oftmals nicht gerechtfertigt wird. Werden Ihre Prognosen denn von den Anlegern seit der Finanzkrise stärker beach­tet und analysiert als vor dem Lehman-Crash?
Es ist immer so, dass in turbulenten Zeiten eine einzelne Nachricht höher bewertet wird als in ruhigen Zeiten. Wenn niemand so rich­tig weiß, wo es hingeht, wird jede konjunkturelle Aussage stark ge­wichtet. Das ist in den Zeiten der Fi­nanzkrise aber nicht anders als in anderen konjunkturellen Ab­schwungphasen.

Auch Ihre Zunft hat bei den Vorhersagen des Absturzes danebengelegen. Woran lag’s?
Prognosen haben immer einen großen Unsicherheits­bereich. Unsere Annahmen gehen derzeit etwa davon aus, dass wir keine neue Bankenkrise mehr erleben und auch nicht, dass ein großes Land in eine Staatspleite gerät. Wenn sich diese Annahmen ändern, müssen die Voraussagen erheblich angepasst werden. Das war auch zu Beginn der Finanzkrise der Fall.

Worauf basieren Ihre Prognosen?
Zuallererst auf der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Das sind Daten der Vergangenheit. Dann nehmen wir kurzfristige Indikatoren auf wie Stimmungsbarometer, Umfragewerte und regelmäßig veröffentlichte Daten wie Exporte und Industrieproduktion. Das da­raus gewonnene Bild muss in die Welt­wirtschaft passen. Deshalb verglei­chen wir die Daten mit denen aus anderen Regionen der Welt und leiten daraus unsere Konjunkturprognose etwa für Deutschland ab.

Was unter­scheidet eine gute von einer schlech­ten Prognose?
Das ist manchmal auch ei­­ne Frage der Perspektive. Man kann etwa bei der Zahl des Bruttoin­landsprodukts (BIP) danebenliegen, aber bei den Einzelindikatoren wie der Industrieproduktion, Nachfra­ge­entwicklung, Staatsverbrauch in der Tendenz völlig richtig gelegen haben. Eine andere Prognose hat vielleicht einen Konsumanstieg und einen ­Produktionsrückgang erwartet. Am Ende kam es genau anders herum, aber die BIP-Vorhersage stimmte. Wer nur auf diese eine Zahl blickt, für den wäre diese Vorhersage dann die passende. Für alle, die tiefer blicken wollen, sicher nicht.

Wie können sich Anleger vor falschen Prognosen schützen?
Sie sollten sich Prog­nosen unterschiedlicher Institute ansehen und miteinander verglei­chen. Jeder Marktteilnehmer muss sich ein eigenes Bild davon machen, was er plausibel findet. Da hat auch der Anlegertyp großen Einfluss: ob konservativ und damit eher der Gesamtmeinung zuneigend oder risikofreudig und sich an der Extremposition orientierend.

Vita Michael Bräuninger
Prof. Dr. Michael Bräuninger leitet seit 2006 die Konjunkturforschung beim Hamburger Weltwirtschafts-Archiv (HWWA). Seit 2009 unterrichtet der diplomierte Volkswirt zudem an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität.