Konjunkturforscher: „Prognosen haben Unsicherheitsfaktoren“
Anlageentscheidungen beruhen auf Konjunkturprognosen. Zuletzt sind die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Vorhersagen allerdings gewachsen. €uro am Sonntag sprach mit HWWI-Konjunkturforscher Michael Bräuninger über die Probleme seiner Zunft.
von Oliver Ristau, Euro am Sonntag
€uro am Sonntag: Im Fall von Griechenland haben aber auch diese Kontrollen offenbar versagt.
Bräuninger: Das stimmt. Insofern bleiben immer Unsicherheiten be-
stehen. Uns als Konjunkturforscher bleibt letztendlich keine andere Möglichkeit, als auf Daten zu vertrauen, die die Staaten uns vermitteln.
Aber haben nicht viele Staaten ein potenzielles Interesse, etwa mit geschönten Daten Investoren und internationale Finanzorganisationen bei der Kredit- und Kapitalvergabe zu beeindrucken?
Das sehe ich nicht. Kein Investor und keine Bank gibt einem Staat nur aufgrund guter Zahlen Kapital. Sie werden sich im Land umsehen und vor Ort genaue Daten über die Wirtschaftsverfassung beschaffen. Fällt dann der Betrug auf, ist der Staat erst recht diskreditiert. Griechenland war ein spezieller Fall. Die wollten einfach beim Euro dabei sein, hatten aber die Bedingungen nicht erfüllt und deshalb ein starkes Interesse an einer falschen Statistik. Dass das nicht in Zweifel gezogen wurde, war sicherlich ein Fehler. Aber es bleibt ein Sonderfall.
Was kann die Europäische Union sonst noch tun?
Bei Griechenland schaltet sich nun auch Eurostat ein. Wir würden es ohnehin begrüßen, wenn die EU-Statistikbehörde noch mehr Kontrollrechte und Einsichtmöglichkeiten bekäme. Auch wenn viele Erhebungsmethoden schon vereinheitlicht sind, ist eine weitere Harmonisierung wünschenswert, um Fälle wie Griechenland künftig eher zu erkennen. Noch werden etwa Arbeitslose in den einzelnen Staaten unterschiedlich definiert und gezählt.
Gibt es nicht in einigen Ländern auch politische Gründe für frisierte volkswirtschaftliche Statistiken?
Ja, das war historisch bei den Staaten des früheren Ostblocks, also der Sowjetunion und den Verbündeten Osteuropas wie der DDR, der Fall. Dort wurden die Statistiken massiv geschönt mit dem Ziel, besser als der Westen dazustehen. Es ging ja um einen Wettbewerb der politischen und ökonomischen Systeme. Wer solche Ziele verfolgt, manipuliert auch die volkswirtschaftlichen Statistiken. Das geht aber nur dort, wo Verfahren, mit denen Daten erhoben und ausgewertet werden, nicht transparent sind.
Dieses Problem trifft teilweise auch auf China und andere Schwellenländer zu. Muss man auch heute noch die Sorge haben, dass die Daten zum Wirtschaftswachstum den politischen Wunschvorstellungen der Regierung angepasst werden?
Wir haben letztlich keine andere Wahl, als uns auf diese Angaben zu verlassen. Wir können die chinesischen Daten auch nicht besser machen. Aber wir prüfen, ob die Zahlen, die wir für Deutschland haben, zusammen mit den externen Statistiken ein konsistentes Bild ergeben. Wenn also China ein hohes Wachstum meldet, müssen auch die Exportraten in Deutschland ansteigen. Das ist etwa für 2009 klar zu sehen, weshalb auch das in China verkündete Wachstum zumindest in dieser Hinsicht plausibel scheint.
Entdecken Sie denn auch Ungereimtheiten im Datenmaterial?
Es gibt hin und wieder Einzelfälle oder bestimmte Zeiten, in denen die Daten für uns nicht nachvollziehbar sind. Oft werden diese hinterher von offizieller Seite tatsächlich revidiert. Das finden wir aber in allen Ländern, auch in Deutschland. In China ist wie in allen Schwellenländern die Datenlage allerdings grundsätzlich schlechter. Es gibt viel weniger Quartalszahlen.
Die offiziellen Statistiken werden rückwirkend oft erheblich korrigiert. Sind die Daten unzuverlässig?
Die Datenlage ist immer mit Unsicherheit behaftet. Die Revisionen sind aber vor allem ein Ausdruck intensiver statistischer Auswertungen tiefgehender Erhebungen. Das braucht Zeit. Zügig gemeldete Daten enthalten oft eine hohe Fehlerquote. Das wird sich auch kaum verhindern lassen, selbst wenn in Zukunft die Datenanalyse weiter optimiert wird. Häufig treten Abweichungen bei besonders kurzfristig gemeldeten Daten wie etwa dem Arbeitsmarkt auf. Hier gibt es auch noch nachträgliche Meldungen zu den tatsächlichen Beschäftigungsverhältnissen.
Diese Abweichungen erzeugen an den Kapitalmärkten oft heftige Irritationen und davon ausgehend auch Kursausschläge.
Das ist ein generelles Problem der Börse, wo es zu einer Überbewertung von Einzeldaten kommen kann. Wohl nicht, weil die Investoren diesen Daten selbst einen hohen Stellenwert beimessen, sondern, weil jeder denkt, dass „der Markt“ sie für wichtig hält. Dadurch entwickelt sich etwa bei diesen Arbeitsmarktdaten eine gewisse Eigendynamik, die durch ihre Inhalte oftmals nicht gerechtfertigt wird.
Werden Ihre Prognosen denn von den Anlegern seit der Finanzkrise stärker beachtet und analysiert als vor dem Lehman-Crash?
Es ist immer so, dass in turbulenten Zeiten eine einzelne Nachricht höher bewertet wird als in ruhigen Zeiten. Wenn niemand so richtig weiß, wo es hingeht, wird
jede konjunkturelle Aussage stark gewichtet. Das ist in den Zeiten der Finanzkrise aber nicht anders als in anderen konjunkturellen Abschwungphasen.
Auch Ihre Zunft hat bei den Vorhersagen des Absturzes danebengelegen. Woran lag’s?
Prognosen haben immer einen großen Unsicherheitsbereich. Unsere Annahmen gehen derzeit etwa davon aus, dass wir keine neue Bankenkrise mehr erleben und auch nicht, dass ein großes Land in eine Staatspleite gerät. Wenn sich diese Annahmen ändern, müssen die Voraussagen erheblich angepasst werden. Das war auch zu Beginn der Finanzkrise der Fall.
Worauf basieren Ihre Prognosen?
Zuallererst auf der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Das sind Daten der Vergangenheit. Dann nehmen wir kurzfristige Indikatoren auf wie Stimmungsbarometer, Umfragewerte und regelmäßig veröffentlichte Daten wie Exporte und Industrieproduktion. Das daraus gewonnene Bild muss in die Weltwirtschaft passen. Deshalb vergleichen wir die Daten mit denen aus anderen Regionen der Welt und leiten daraus unsere Konjunkturprognose etwa für Deutschland ab.
Was unterscheidet eine gute von einer schlechten Prognose?
Das ist manchmal auch eine Frage der Perspektive. Man kann etwa bei der Zahl des Bruttoinlandsprodukts (BIP) danebenliegen, aber bei den Einzelindikatoren wie der Industrieproduktion, Nachfrageentwicklung, Staatsverbrauch in der Tendenz völlig richtig gelegen haben. Eine andere Prognose hat vielleicht einen Konsumanstieg und einen Produktionsrückgang erwartet. Am Ende kam es genau anders herum, aber die BIP-Vorhersage stimmte. Wer nur auf diese eine Zahl blickt, für den wäre diese Vorhersage dann die passende. Für alle, die tiefer blicken wollen, sicher nicht.
Wie können sich Anleger vor falschen Prognosen schützen?
Sie sollten sich Prognosen unterschiedlicher Institute ansehen und miteinander vergleichen. Jeder Marktteilnehmer muss sich ein eigenes Bild davon machen, was er plausibel findet. Da hat auch der Anlegertyp großen Einfluss: ob konservativ und damit eher der Gesamtmeinung zuneigend oder risikofreudig und sich an der Extremposition orientierend.
Vita Michael Bräuninger
Prof. Dr. Michael Bräuninger leitet seit 2006 die Konjunkturforschung beim Hamburger Weltwirtschafts-Archiv (HWWA). Seit 2009 unterrichtet der diplomierte Volkswirt zudem an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität.