Tom Mayer, droht ein Crash, wenn die Zinsen steigen?
Der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank betrachtet die Notenbanken als Gefangene ihrer eigenen Politik. Er fürchtet einen Crash, sollten die Zinsen wieder steigen.
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von Benjamin Summa
Herr Dr. Mayer, derzeit gibt es eine Menge dunkle Wolken am Horizont: Der Konflikt in der Ukraine und gegenseitige Handelssanktionen zwischen Russland und dem Westen, Kämpfe im Irak und Israel sowie die Furcht vor einer Abkühlung der Konjunktur in Europa. Die Aktienmärkte haben als Reaktion bereits deutlich korrigiert. Könnte es sich jetzt rächen, dass sich viele Investoren in den vergangenen Jahren immer sehr stark auf die Aktien-Kaufargumente "Liquidität" und "Alternativlosigkeit" konzentriert haben?
Tom Mayer: Die Liquidität war ein ganz bestimmender Faktor für die Aktienmärkte und sie wird auch künftig einer bleiben, aber sie ist natürlich nicht der einzige. Es gibt immer plötzlich auftretende politische Querschläge, die niemand antizipieren kann. Zu Beginn des Jahres waren diese krisenhaften Entwicklungen nicht auf dem Radarschirm der Anleger. Alle waren in freudiger Erwartung eines guten Aktienjahres. Jetzt hat sich die Stimmung innerhalb kürzester Zeit gedreht. Es wäre sicherlich die falsche Reaktion, jetzt aus Aktienengagements fluchtartig auszusteigen. Kein Mensch kann zum jetzigen Zeitpunkt mit Sicherheit sagen, ob sich die Krisen in der Ukraine, dem Irak oder in Nahost verschärfen oder sich entspannen werden. Auch die künftige Entwicklung der Weltwirtschaft ist mit einem großen Fragezeichen versehen. Es zahlt sich jetzt aus, wenn man eine kluge Aufteilung des Vermögens auf verschiedene Asset-Klassen vorgenommen hat, mit der man auch in krisenhaften Zeiten gut gerüstet ist. Diversifikation ist wichtiger denn je!
Die deutsche Wirtschaft schrumpft überraschend deutlich: Die Produktion entwickelte sich im zweiten Quartal schwach, Industrieaufträge sind gesunken, auch die Stimmung ist schlecht. Noch übler sieht es derweil in Italien aus, das nach einem weiteren BIP-Rückgang in einer Rezession steckt. Da hilft es kaum, dass es in Krisenländern wie Spanien endlich wieder etwas aufwärts geht. Wie schwarz sehen Sie für die konjunkturelle Entwicklung in Europa?
Seit einigen Jahren gibt es das immer wiederkehrende Muster, dass zu Jahresbeginn große Zuversicht für die Konjunktur herrscht, dann schwächt sich die Stimmung im zweiten Halbjahr ab.
Die Deutschland-Euphorie vom Jahresanfang, die dann noch durch die gewonnene Fußballweltmeisterschaft befeuert worden ist, war übertrieben. Die Dinge laufen hierzulande nicht so rund, wie es manche noch zu Beginn des Jahres meinten. Die Große Koalition unterzieht die deutsche Wirtschaft einer schweren Belastungsprobe, ich erinnere an Vorhaben wie die Rente mit 63, den Mindestlohn, die Mütterrente und die Energiewende.
EZB-Chef Draghi hat es mit seiner Euro-Garantie geschafft, dass die Eurokrise abflaute. Er hat damit aber auch den Druck von den großen Ländern wie Italien und Frankreich genommen, Strukturreformen, die dringend notwendig wären, rigoros durchzusetzen. Ohne Strukturreformen werden diese Länder auf Jahre hinaus nur ein minimales Wachstum haben.
Weil es mit der Agenda 2010 seine Hausaufgaben erledigt hat, wird Deutschland zwar schneller wachsen, aber das Wachstum der Eurozone auch nicht nennenswert nach oben ziehen können.
Die USA zeigen noch immer ganz gute Konjunkturindikatoren. China schwächt sich zwar ab, es gibt jedoch keine Anzeichen, dass es dort zu einem Crash-Landing kommt. Wenn die derzeit schwelenden politischen Konflikte nicht zur globalen Belastung werden, dann wird sich das weltweite Wachstum der Wirtschaft wohl auf mäßigem Niveau einpendeln.
Die mächtige Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) fürchtet, dass die Notenbanken in den Industrienationen mit Verweis auf das schwache Wirtschaftswachstum zu lange mit Leitzinserhöhungen zögern, während gleichzeitig an den Finanzmärkten die Preise steigen. Wie realistisch ist die Gefahr von Spekulationsblasen Ihrer Einschätzung nach?
Die amerikanische Notenbank Fed hat in den 1930er-Jahren versagt. Man hat nicht reagiert, als der Aktienmarkt abschmierte und dadurch die Kredite sowie die Geldmenge einbrachen. Das hat der Ökonom Milton Friedman in seinem monumentalen Werk über die Geldgeschichte der USA wunderbar beschrieben. Die Notenbanken - allen voran die Fed, die Bank of England und die EZB - haben sich jetzt geschworen, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Jetzt soll sichergestellt werden, dass die Geldmenge nicht schrumpft. Dieses Ziel haben sie erreicht - deshalb haben wir nur eine scharfe Rezession gesehen, keine große Depression. Aber die Notenbanken haben es nicht hinbekommen, mit diesen Maßnahmen das Wirtschaftswachstum nachhaltig zu erhöhen. Deshalb dümpeln alle Länder, die von der Finanz- und Bankenkrise betroffen waren, jetzt mit mehr oder weniger schwachen Wachstumsraten dahin. Dabei läuft es in den USA etwas besser, in der Eurozone deutlich schlechter.
Durch die niedrigen Zinsen und die quantitative Lockerung der Geldpolitik wurden in den Märkten für Vermögenswerte - zum Beispiel den Renten- und einigen Immobilienmärkten - Bewertungen erzeugt, die unter "normalen" Umständen nicht zu halten sind. Wenn die Zentralbanken aus dieser Politik des lockeren Geldes aussteigen, dann werden sich diese Bewertungen wieder ändern, denn der Zins ist ein enorm wichtiger Bewertungsfaktor. Dann stellt sich die Frage, ob die Wirtschaftsentwicklung robust genug ist, einen erneuten Abschwung in den exponierten Märkten für Vermögenswerte zu verkraften. Da habe ich meine Zweifel!
Die Zentralbanken sind Gefangene ihrer eigenen Politik geworden. Die Bank für internationalen Zahlungsausgleich hat Recht, wenn sie darauf verweist, dass es bisher völlig unklar ist, wie man aus der bisherigen Notenbankpolitik herauskommen kann, ohne einen Crash auf den Märkten für Vermögenswerte auszulösen.
Welches Szenario ist für Sie wahrscheinlicher: Fed, EZB und Co. kommen in den nächsten Jahren deutlich aus dem Zinstief heraus oder die Notenbanken müssen aufgrund der lahmenden Konjunktur die Zinsen nach einer Anhebung immer wieder schnell nach unten korrigieren?
Ich fürchte, das zweite Szenario ist wahrscheinlicher. Die Geldpolitik hat - wie bereits beschrieben - den großen konjunkturellen Ausschlag nach unten zwar verhindert. Wenn die Notenbanken aber versuchen, aus der Politik des billigen Geldes auszusteigen, dann droht dieser Ausschlag erneut. Deshalb werden die Zentralbanken nach einer ersten Zinserhöhung aller Voraussicht nach schnell kalte Füße bekommen und das Zinsniveau wieder nach unten korrigieren.
Historisch gesehen dauert es im Durchschnitt zehn Jahre, bis sich die Wirkungen einer Finanz- und Bankenkrise wieder verflüchtigen. Die Finanzkrise von 2008/2009 war deutlich heftiger als der Durchschnitt. Es könnte daher gut sein, dass dieses Mal die Nachwirkungen länger als zehn Jahre spürbar sind.
Wann können Sparer wieder mit vier oder fünf Prozent Zinsen auf ihre Spareinlagen hoffen?
Auf absehbare Zeit kann man auf ein solches Zinsniveau nicht mehr hoffen. In der Finanzkrise wurden die Schulden verschoben: von Privateinheiten, die unter diesen Schulden zusammenzubrechen drohten, hin zum Staat. Die Frage ist jetzt, was mit den Staaten passiert, wenn das Zinsniveau wieder ansteigen sollte. Deutschland ist dabei relativ gut aufgestellt, Herr Schäuble könnte wahrscheinlich mit vier bis fünf Prozent leben - obwohl er dann kräftiger sparen müsste, als er das bisher tut. Aber Staaten wie Italien, Japan und Griechenland wären schlichtweg bankrott.
Welche Folgen hätten hierzulande japanische Verhältnisse für die Anleger, also eine anhaltende Niedrigzinsphase?
Wenn wir es lediglich mit japanischen Verhältnissen zu tun hätten, dann wäre es gar nicht so schlecht für die Anleger. In Japan hatten wir eine milde Deflation, die Anleger hatten in dieser Zeit immerhin noch positive Realzinsen. Ich fürchte aber, dass die Situation im Euroraum problematischer ist: Wir werden vermutlich japanische Wachstumsraten und japanische Niedrigzinsen haben. Aber die EZB wird alles daran setzen, im Euroraum eine Deflation zu verhindern. Im Ergebnis heißt das, dass sich die deutschen Sparer - anders als die japanischen - auf eine längere Periode mit negativen Realzinsen einstellen müssen.
Glauben Sie, dass die Deutschen ihre Anlagestrategien mittelfristig dieser Periode negativer Realzinsen anpassen werden? In deren Portfolios sind Geldwerte stark übergewichtet, eine ausgeprägte Aktienkultur gibt es hierzulande aber nicht …
Das ist ein riesiges Problem. In Deutschland zieht man oft den sicheren Verlust einem unsicheren Gewinn vor. Anleger, die ihr Geld aufs Sparbuch packen, können ihren Verlust derzeit einigermaßen genau berechnen. Denn die Inflationsrate ist nicht so volatil wie der Aktienmarkt. Die Sparer bekommen null Prozent Zinsen, und vielleicht schafft es die EZB, die deutsche Inflationsrate in Richtung zwei Prozent zu drücken. Dann kann man sich auf einen Verlust von zwei Prozent in realen Größen einstellen.
Aktienanleger wissen zu Beginn des Jahres nie, wie hoch ihr Vermögen zum Jahresende sein wird. Man kann lediglich sagen, dass das in Aktien investierte Vermögen aufgrund der historischen Erfahrung langfristig real wachsen wird. Aber man kann nicht den genauen Zeitpunkt und die exakte Größe berechnen. Und zwischendurch muss man immer mit einer Korrektur, also einer Leidenszeit rechnen.
Es kommt deshalb ganz wesentlich darauf an, dass sich Anleger für eine Portfoliostruktur entscheiden, mit der sie sich gefühlsmäßig wohlfühlen können. Menschen, die mit Kurskorrekturen mental nicht umgehen können, sollten die Finger von Aktien lassen, ansonsten machen sie den häufigen Fehler, zum Hoch einzusteigen und am Tief zu verkaufen.
Können Sie bitte folgende Anlageklassen einer Kurz-Analyse unterziehen …
Anleihen: Angesichts der Minizinsen betrachte ich Anleihen und Cash beinahe als Synonyme. Hier bekommen die Anleger - wie gesagt - einen klar zu kalkulierenden Verlust. Investoren können einen gewissen Teil ins Portfolio legen, um laufende Ausgaben zu finanzieren und ruhiger zu schlafen.
Selbstgenutzte Immobilie: Auf der einen Seite würde ich erwarten, dass Immobilien in diesem Zinsumfeld im Preis steigen. Andererseits sind Immobilien aber auch anfälliger für Preisübertreibungen und Blasen als andere Anlegerklassen, weil der Markt nicht liquide ist. Eine selbst genutzte Immobilie ist immer auch Wohnkonsum - und der ist nicht leicht anzupassen, wenn sich die Lebensumstände ändern. Wer weniger "Wohnen" konsumieren möchte, ist dann gezwungen, die Immobilie zu verkaufen oder zu vermieten.
Gold: Ich sehe Gold als Währung, nicht als klassische Anlageklasse. Das Edelmetall ist eine Schutzwährung für den Fall, dass die Zentralbanken durch ihre Politik, die darauf ausgelegt ist, die Inflationsrate noch oben zu drücken, das Papiergeld ruinieren. Gold sollte man beimischen ins Portfolio, man sollte es aber nicht unter Performance-Gesichtspunkten betrachten. Die großen spekulativen Positionen sollten mittlerweile aus dem Markt sein - das würde in Bezug auf den Goldpreis für eine Bodenbildung sprechen. Es besteht also die Hoffnung, dass die Korrekturphase ihrem Ende entgegengekommen ist.
Kurzvita von Dr. Thomas Mayer
Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln.
Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Bevor
er in die Privatwirtschaft wechselte, bekleidete er verschiedene Funktionen beim Internationalen
Währungsfonds in Washington und beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel.
Disclaimer: Der Autor, Benjamin Summa, ist Unternehmenssprecher der pro aurum KG, München.
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