Interview Exklusiv

Nobelpreisträger Stiglitz: "Die Sparpakete sind töricht“

aktualisiert 08.10.12 20:06 Uhr

Joseph E. Stiglitz, der Wirtschaftsnobelpreisträger über Rettungspläne für Europa, die Rolle des Staates in der Wirtschaft und die Angst der Deutschen vor einer Inflation.

von Sven Parplies, Euro am Sonntag

Etwas läuft gewaltig schief. „Die Kluft zwischen dem, was unsere ökonomischen und politischen Systeme leisten sollen, und dem, was sie tatsächlich leisten, ist so groß geworden, dass man sie nicht mehr ignorieren kann“, warnt Joseph Stiglitz.

Der amerikanische Nobelpreisträger und Wirtschaftsprofessor übt scharfe Kritik an den Eliten aus Politik und Wirtschaft in den USA, vor allem wegen der Exzesse im Finanzsektor. Das Land hätte eine „fabelhafte Wirtschaftsmaschine erschaffen, die jedoch offensichtlich nur für diejenigen funktioniert, die sich an der Spitze der Einkommenspyramide befinden“, beklagt Stiglitz in seinem neuen Buch.

Der Kampf der Ideologien begrenzt sich nicht auf die Vereinigten Staaten — auch in der europäischen Schuldenkrise prallen Weltanschauungen und Vorurteile aufeinander. Welche Ideen sich letztlich durchsetzen, könnte entscheiden, ob die Eurokrise entschärft werden kann oder in eine ökonomische und soziale Katastrophe führt.

€uro am Sonntag: Herr Professor Stiglitz, welchen Ratschlag würden Sie Angela Merkel im Kampf gegen die Eurokrise geben?
Joseph E. Stiglitz: Der wichtigste Punkt — eine Politik, die ausschließlich auf Sparen ausgerichtet ist, wird die Probleme nicht lösen. Spanien, Irland und die anderen in Not geratenen Staaten brauchen Wachstum. Sparpakete bringen das Gegenteil, also Rezession.

Die Auflagen für die Krisenstaaten sind nicht willkürlich: Sie sollen sicherstellen, dass Länder wie Griechenland längst überfällige Reformen umsetzen und wettbewerbsfähig werden.
Griechenland ist ein Sonderfall. Man sollte sich bei der Diskussion um die Eurokrise auf Länder wie Spanien und Irland konzentrieren. Die Menschen dort haben sich immer wie vorbildliche Europäer verhalten. Die Krise ist hier nicht durch exzessive Ausgaben verursacht worden — bei­de Länder hatten Haushaltsüberschüsse und eine niedrige Schuldenquote. Die Defizite sind erst durch die Krise entstanden, nicht umgekehrt. Wenn die Wirtschaft in Spanien und Irland wachsen würde, wäre das Defizit gewiss zu kontrollieren.

Auch Spanien und Irland brauchen Wirtschaftsreformen.
Der richtige Zeitpunkt für Strukturreformen ist, wenn die Wirtschaft wächst. Reformen brauchen Zeit, bis sie wirken, und schwächen zunächst einmal die Wirtschaft. Wenn die Löhne schrumpfen, sinkt die Nachfrage. Die Steuereinnahmen sinken, die Arbeitslosigkeit steigt. Das macht die Rezession schlimmer.

Spanien kann nur gegen extrem hohe Zinsen Geld leihen. Das macht staatliche Konjunkturprogramme praktisch unmöglich. Wie ist dieses Problem zu lösen?
Europa braucht, in welcher Form auch immer, eine Vergemeinschaftung von Schulden. Das Verhältnis von Schulden zum Bruttoinlandsprodukt in Europa ist niedriger als in den USA. Wenn sich die Staaten der Eurozone gemeinschaftlich Geld leihen, würden sie niedrigere Zinsen zahlen müssen. Die Schulden würden beherrschbar, und das Geld, das nicht länger in Zinszahlungen fließt, würde helfen, Wirtschaftswachstum zu fördern.

Sind Deutschland und Nordeuropa wirklich stark genug, um die Schulden großer Länder wie Spanien oder gar Italien zu schultern?
Wenn die Wirtschaft in Europa wieder wächst und sich Europa gemeinschaftlich Geld zu niedrigen Zinssätzen leiht — was die Chance auf Wachstum eröffnen würde — wäre das Risiko minimal. Die Richtung, in die sich Europa derzeit bewegt, ist nicht tragfähig. Auch Deutschland muss sich entscheiden, ob es mehr Europa will oder weniger.

Wäre Deutschland ohne Europa besser dran?
Wenn Europa auseinanderfällt, wird das für Deutschland und den Rest Nordeuropas sehr teuer. Allein durch Wechselkurseffekte — die Währungen der Südeuropäer würden abwerten und deren Produkte auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger werden. Für Deutschland gilt das genaue Gegenteil.

Die große Angst der Deutschen heißt Inflation. Lässt sich Europa ohne Geldentwertung retten?
Das Trauma der Deutschen ist Hyperinflation. Davon ist Europa weit entfernt. Es geht um ein paar Prozentpunkte Inflation. Die würden helfen, Ungleichgewichte in Europa auszubalancieren.

Trotzdem — die Deutschen würden auch auf eine moderate Inflation sehr empfindlich reagieren.
Wenn die Deutschen über die Vergangenheit nachdenken, sollten sie sich nicht nur an die Hyperinflation erinnern, sondern auch an die ex­treme Arbeitslosigkeit jener Zeit. Und sie sollten sich bewusst machen, dass sich Spanien und Griechenland in einer Depression befinden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent, unter Jugendlichen bei 50 Prozent, ohne dass eine Wende in Sicht ist. Dieser Zustand ist schlimmer als eine moderate Inflation.

In den USA hat Präsident Obama versucht, die Wirtschaftskrise mit einem staatlichen Investitionsprogramm zu bekämpfen. Viel gebracht hat das nicht — das Wachstum ist schwach, die Arbeitslosigkeit noch immer hoch.
Ohne das Konjunkturpaket wäre die Lage deutlich schlechter. Die Arbeitslosigkeit wäre bis auf zwölf oder 13 Prozent gestiegen statt auf zehn. Der Stimulus hat also funktioniert. Das Programm war allerdings nicht groß genug und nicht so gut strukturiert, wie es hätte sein können.

Die US-Republikaner wollen Steuern senken, um den Unternehmen mehr Spielraum für Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu geben. Warum gefällt ­Ihnen der Plan nicht?
Amerikas Unternehmen sitzen auf einigen Billionen Dollar an Bargeld. Sie investieren nicht, weil die Nachfrage zu schwach ist und die Kapazitäten nicht ausgelastet sind. Das Problem der amerikanischen Wirtschaft ist, dass wichtige Stützen ausgefallen sind. Vor der Krise kamen beispielsweise 40 Prozent aller Investitionen aus dem Immobilienbereich — das alte Niveau ist auf absehbare Zeit nicht zu erreichen. Die Realität ist: Wenn der Staat nicht einspringt, wird die Nachfrage schwach bleiben und die US-Wirtschaft nicht die Wachstumsraten schaffen, die notwendig sind, um in ausreichender Zahl Arbeitsplätze zu schaffen.

Glauben Sie, dass der Staat wirklich ein intelligenter Investor ist? Es gibt verheerende Beispiele für Fehlinvestitionen von Staaten.
Niemand hat jemals mehr Geld verschwendet als der private Finanzsektor der USA. Das war die massivste Verschwendung von Ressourcen der Weltgeschichte! Niemand ist perfekt — weder der Staat noch der Privatsektor. Wenn man aber sehr genau hinschaut, ist der wirtschaftliche Nutzen von staatlichen Investitionen oft sogar größer als bei privaten, etwa wenn es um Infrastrukturprojekte geht. Auch das Internet oder die Biotechnologie sind mithilfe staatlicher Investitionen entwickelt worden.

Europa schwächelt, die Wirtschaft der Vereinigten Staaten wächst kaum. Was bedeutet das sich abschwächende Wachstum Chinas für den Westen?
Wir können nicht darauf hoffen, dass uns die Schwellenländer aus der Krise ziehen. Wir müssen es selbst tun. Auch deshalb ist eine nur auf Sparen ausgerichtete Wirtschaftspolitik töricht.

VITA

Joseph Eugene Stiglitz (69) ist Professor an der Columbia-Universität in New York. Bücher des Nobelpreisträgers für Wirtschaft sind weltweit Bestseller. Am 8. Oktober erscheint in Deutschland sein neues Werk „Der Preis der Ungleichheit — wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht“ (Siedler Verlag, München, 512 Seiten; 24,99 Euro). Darin warnt Stiglitz vor den Folgen einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Diese behindere Wirtschaft und Wachstum, korrumpiere Justiz und Politik. Stiglitz’ Appell: Mehr Fairness in der Gesellschaft stärke die Wirtschaftskraft eines Landes.