Hirnforscher: Geld ist eine wunderbare Erfindung
Der Neurobiologieprofessor und Hirnforscher Gerald Hüther über Börsianernerven, Geld, Schulden als Unglücksindikator und den (Un-) Sinn von Finanzberatung.
Das Interview führte Mario Müller-Dofel
€uro: Herr Hüther, der jüngste Alterssicherungsbericht der Bundesregierung zeigt: Die Deutschen sparen weniger
fürs Alter. Seltsam, oder? Zumal vielen Deutschen Altersarmut droht.
Gerald Hüther: Seltsam finde ich das nicht. Denn wenn jemand für etwas sparen soll, das in ferner Zukunft liegt, müsste es hochattraktiv für ihn sein. Das heißt: Würden sich die Deutschen aufs Alter freuen, weil sie sich dann weiterentwickeln und neu entfalten wollten, würden sie wohl mehr dafür sparen.
Sie meinen, weil das Altern als unattraktiv gilt, ist auch Altersvorsorge unattraktiv?
Richtig. Viele Menschen verstehen ja unter Altersvorsorge vor allem finanzielle Rücklagen für negativ empfundene Fälle wie das Pflegeszenario. Wer spart für so etwas schon gern, wenn er sein Geld eigentlich lieber morgen im Shoppingcenter ausgeben würde?
Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts Forsa ist für 59 Prozent der Deutschen finanzielle Sicherheit „besonders wichtig“. Dennoch interessieren sich nur 31 Prozent „stark“ für eine sichere Geldanlage. Wie erklärt der Hirnforscher dieses Paradox?
Kapitalanleger haben in den vergangenen
15 Jahren immer wieder erzählt bekommen, dass bestimmte Anlagen sicher wären. Doch dann stellten sie sich als höchst unsicher heraus. Menschen lernen nicht durch kluge Ratschläge, sondern durch unter die Haut gehende Erfahrungen. Die verfestigen sich im Gehirn als Überzeugungen und bestimmen ihre künftigen Bewertungen. Deshalb glauben nun viele Menschen, dass sichere Geldanlagen nicht realistisch sind.
Sie auch?
Ich befasse mich privat kaum mit Kapitalanlagen. Geld spielt in meiner Lebensplanung keine besonders wichtige Rolle.
Weil Sie als renommierter Psychiater, Wissenschaftler, Vortragsredner und Buchautor genug Geld verdienen?
Ich habe materiell nur sehr geringe Bedürfnisse. Ich brauche kein großes Haus, keine teuren Reisen, keine Statussymbole.
In unserer Welt der fast unbegrenzten Konsummöglichkeiten ist es schwierig, bescheiden zu bleiben.
Nur für Menschen, die sich durch Besitz definieren, für Besitzstandswahrer also.
Können Sie solche genauer definieren?
Es sind Menschen, die einmal Erworbenes für immer festhalten und vermehren wollen.
Sie meinen materielle Vermögenswerte?
Ja, aber auch eigene Überzeugungen und Vorstellungen, die sie aufgrund bestimmter Lebenserfahrungen im Gehirn verankert haben und an denen sie genauso kleben wie an ihren materiellen Besitztümern. Wer sich dem natürlichen Fluss des Lebens durch das Festhalten an Besitzständen entgegenzustemmen versucht, hat es meist sehr schwer.
Wie funktioniert das Gehirn von Menschen, die viel Zeit darauf verwenden, ihr Vermögen zu mehren — etwa an der Börse?
Sie haben etwas gefunden, das ihnen bedeutsam ist, was ich grundsätzlich positiv sehe. Denn was wir bedeutsam finden, aktiviert die emotionalen Zentren im Gehirn. Gelingt es, dieses bedeutsame Gut zu bekommen — für Anleger sind es maximale Renditen —, werden Botenstoffe im Gehirn ausgeschüttet, die Glücksgefühle erzeugen. Gleichzeitig werden dabei aber auch all jene Nervennetzwerke gefestigt und verstärkt, die Anleger für die Geldvermehrung aktivieren.
Das klingt doch bestens.
Aus diesen Nervenwegen im Hirn können aber leicht Autobahnen werden, von denen ein Börsianer dann kaum noch herunterkommt. Wenn das Denken nur noch von dem Bedürfnis nach Geldvermehrung bestimmt wird, ist man ein Abhängiger. Geld ist — wie Macht oder Drogen — häufig eine Ersatzbefriedigung für ungestillte Bedürfnisse.
Für welche?
Für Bedürfnisse nach Verbundenheit und intakten sozialen Beziehungen einerseits und nach persönlicher Entfaltung, Autonomie und Freiheit andererseits. Diese Grundbedürfnisse sind in jedem Menschen angelegt.
Sie sagten gerade, dass Sie Vermögensmehrung als Bedeutsamkeit „positiv“ fänden. War das wirklich Ihr Ernst?
Ja, weil ich die subjektiven Bedeutsamkeiten anderer Menschen respektiere. Warum für manche ausgerechnet Geld so wichtig ist, müssen sich die Betreffenden selbst fragen. Aber für die Entwicklung einer ganzen Gesellschaft ist so eine Fokussierung nicht so günstig.
Was bedeutet sie für die Gesellschaft?
Wenn viele Menschen das Gleiche — in unserem Beispiel Geld — bedeutsam finden, richtet sich bald die gesamte Gesellschaft darauf aus. Dann kommt es automatisch zu einer zunehmenden Ökonomisierung aller anderen Gesellschaftsbereiche und irgendwann wird ein Zustand erreicht, in dem fast alle von Kindesbeinen an ihr Leben nach diesem bedeutsamen Faktor ausrichten. Und dann werden Geld und materieller Besitz auch zum Maßstab für das soziale Ansehen. Dies macht erst einzelne Menschen und dann die gesamte Gesellschaft unglücklich und krank.
Die Chance zur Mehrung des individuellen Wohlstands fördert auch die Leistungsbereitschaft und Stabilität einer Gesellschaft.
Das ist positiv. Aber nur, solange dabei nicht der Blick für andere, existenzielle Dinge verloren geht: etwa für die Schönheit der Natur, die Endlichkeit von Ressourcen, die Bedürfnisse der Kinder, das Familienglück und
die vielfältigen Talente und Begabungen,
die in jedem Menschen verborgen sind.
Sind wir noch zu retten?
Ja, aber nicht von außen, sondern von
innen — durch einen Kulturwandel.
Halten Sie den für realistisch?
Er deutet sich schon in manchen Bereichen und Unternehmen an. Zum Beispiel hat die Stiftung Mercator der Unternehmerfamilie Schmidt-Ruthenbeck gemeinsam mit den Stiftungen der Unternehmen Altana, Bertelsmann, Deutsche Bank, PwC, Siemens und Vodafone im November 2012 einen Rat für kulturelle Bildung konstituiert. Man merkt langsam wieder, dass nicht nur ökonomische Werte bedeutsam sind, sondern auch kulturelle. In diesem Umdenken sehe ich eine positive Folge der Schulden- und Finanzkrise.
Die Industrieländer sind hoch verschuldet. Doch obwohl allgemein akzeptiert scheint, dass die Schuldenmacherei ein Ende haben muss, geht sie immer weiter. Warum?
Jede Regierung, die den Staat nicht weiter verschuldet, würde die gegenwärtigen Wählererwartungen enttäuschen und müsste wohl abdanken. Ihre Wiederwahl erachten Politiker aber als bedeutsamer als eine nachhaltige Schuldenreduktion. Daher richten
sie ihr Handeln darauf aus — und nicht auf ein Ende des Lebens über unsere Verhältnisse.
Und was treibt die privaten Haushalte in die Schulden — das mangelhafte Finanzwissen des Großteils der Bevölkerung?
Aus meiner Sicht hat das nichts mit Finanzwissen zu tun, sondern damit, dass es sehr viele emotional bedürftige, also unglückliche Menschen in unserer Gesellschaft gibt. Die brauchen immer irgendetwas und sind deshalb gute Konsumenten. Es ist ja stets einer da, der einem verspricht: Wenn du dir dieses oder jenes kaufst, wirst du glücklich. Dafür verschulden sich die Unglücklichen dann.
Also ist der Schuldenstand der Bürger ein Unglücksindikator?
So kann man das sehen.
Rund fünf Millionen Menschen in Deutschland — so viele direkte Aktionäre gibt es hierzulande — investieren an der Börse. Warum, glauben Sie, sind es so wenige, obwohl gute Aktien die beste Langfristanlage sind?
Das Gehirn funktioniert eben nicht wie ein Taschenrechner und Menschen sind nicht rational. Entscheidend für ihr Handeln sind ihre subjektiven Erfahrungen. Es gab eine lange Zeit, in der Aktien für das Gros der Deutschen kein Thema waren. Dann kam der Aktienboom vor dem Jahrtausendwechsel und mit ihm viele neue Anleger. Dann stürzten die Börsen ab und die meisten Anleger mussten erfahren, dass es doch nicht so gut war, Aktien zu kaufen. Deshalb ist es normal, dass sich die Mehrheit der Deutschen gegen Aktien entscheidet — egal was objektive Vergleiche zu anderen Anlageformen aussagen.
Viele Privatanleger kaufen erst dann Aktien, wenn deren Kurse schon stark gestiegen sind. Und wenn die Kurse stark gefallen sind, verkaufen sie panisch und mit Verlust. Wie erklären Sie sich das?
Die entscheidenden Erfahrungen machen Menschen ja im täglichen Leben und nicht an der Börse. Und wenn sich etwas im Leben ungünstig entwickelt, ist es völlig richtig, sich davon zu trennen. Und wenn es bergauf geht, vermeintlich in Richtung mehr Glück, versucht man, dranzubleiben. Aber genau das ist an der Börse offenbar oft das Falsche.
Warum wiederholen Anleger diesen Fehler immer wieder?
Weil es in ihrem Alltag kein Fehler ist und
sie diese Erfahrung dort ja schon 30, 40 oder mehr Jahre gemacht haben, ehe sie sich an der Börse versuchen. Die bis dahin gemachten Erfahrungen sind dann derart im Gehirn verfestigt, dass ein entgegengesetztes Verhalten ihren Überzeugungen widerspräche.
Die Qualität der Bankberatung wird von Verbraucherschützern immer wieder als mangelhaft kritisiert. Ihrer Meinung nach zu Recht?
Aus meiner neurobiologischen Sicht ist die Diskussion überflüssig, weil kognitive Appelle im Rahmen von Beratungen nicht gegen die Macht der Erfahrungen ankommen.
Sie meinen, eine bessere Bankberatung bringt gar nichts?
Die Debatte darum beruhigt sicher die Öffentlichkeit und führt zu einem unglaublich teuren juristischen Verwaltungssystem, das die gewünschten Ziele aber verfehlt. Das
gilt auch für die neuen Beratungsprotokolle: Die taugen bestenfalls dazu, Anleger zu beruhigen und Berater abzusichern.
Manche Anleger geben für ihre Verluste Bankberatern die Schuld.
Wie lautet Ihre Antwort darauf?
Jemand, der mit seinem Leben zufrieden ist, der gut in eine Gemeinschaft eingebettet
ist, der seine Potenziale entfalten kann und von anderen geschätzt wird, braucht keine maximalen Renditen. Es ist schon faszinierend: Beide, Berater und Anleger, sind offenbar Bedürftige, die nicht so recht glücklich mit dem sind, was ihnen das Leben bietet.
Was empfehlen Sie Anlegern nun?
Das, was ich jedem Menschen empfehle: Sie sollten versuchen, das wiederzufinden,
was sie irgendwann in ihrem Leben verloren haben: hirntechnisch nennt man das Kohärenzgefühl. Dafür müssten sie die drei salutogenetischen Grundregeln für ein gesundes Leben einhalten. Erstens: zur Verstehbarkeit der Welt beitragen. Dazu dienen übrigens auch Zeitschriften wie €uro. Zweitens: eine Lebenswelt schaffen, in der sie Gestalter
und nicht Opfer ihrer jeweiligen Lebensumstände sind. Und drittens sollte das, was sie gestalten, sinnvoll in einen größeren Kontext eingebettet sein. Gelänge ihnen das, würden Banken und Anleger ihre Gewinne dafür einsetzen, eigene Potenziale und die anderer Menschen zu entfalten, statt damit die Ressourcenverschwendung weiter anzuheizen.
Geld und Renditen können also auch für Sie etwas Gutes haben?
Wenn es so eingesetzt wird, wie ich es gerade beschrieben habe, ist Geld eine wunderbare Erfindung, ein Kulturgut, das die Welt menschlicher machen kann.
Kurzvita
Professor Dr. Gerald Hüther wurde am 15. Februar 1951 in Emleben bei Gotha geboren. Er ist Leiter der Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung an den Unis Göttingen und Mannheim/Heidelberg, zudem berät er Firmen und Politiker. Studiert und geforscht hat Hüther in Leipzig und Jena, dann seit 1979 am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen. Von 1994 bis 2006 leitete er zudem eine Forschungsabteilung an der psychiatrischen Klinik in Göttingen. Das Ziel seiner Aktivitäten ist es, günstigere Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher
Potenziale zu schaffen, speziell im Bereich Erziehung und Bildung sowie auf der Ebene der politischen und wirtschaftlichen Führung. Hüther ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
Der breiten Öffentlichkeit ist Gerald Hüther durch seine populärwissenschaftlichen Bestseller bekannt geworden. Seine jüngst veröffentlichten Bücher tragen die Titel:
„Jedes Kind ist hoch begabt: Die angeborenen Talente
unserer Kinder und was wir aus ihnen machen“ (Knaus Verlag, 2012), „Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden“ (Vandenhoeck &
Ruprecht, 11. Auflage, 2012) und „Was wir sind und was
wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher“ (Verlag S. Fischer, 2011).
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Bildquellen: Axel Griesch für €URO