Armutsrisiko in Großstädten wächst
Hohe Arbeitslosigkeit und anhaltender Strukturwandel: Dortmund hat Leipzig überholt und führt die Liste der 15 größten Städte mit dem höchsten Armutsrisiko in Deutschland an.
Mehr als jeder Vierte ist dort laut Statistischem Bundesamt von Armut bedroht, fast genauso viele sind es in Leipzig und Duisburg. In 12 der 15 größten Städte hat die relative Armut von 2005 bis 2012 zugenommen - am stärksten in vier nordrhein-westfälischen Kommunen.
"Das Ruhrgebiet hat mehrere Wellen der De-Industrialisierung hinter sich", sagt Gesundheits- und Armutsforscher Rolf Rosenbrock, der auch Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrt-Gesamtverbands ist. "Trotz der fantasievollen Ansiedlungen neuer Technologien ist die Masse der weniger qualifizierten Menschen nicht erreicht worden." Und: "Die große Last der Armut kommt immer auf die Kommunen zu." Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds, Kommunalpolitiker Heinz Hilgers, fordert: "Die Gemeindefinanzierung muss auf eine neue Basis gestellt werden." Städte, die große soziale Probleme hätten, bräuchten eigentlich mehr Geld, hätten aber weniger.
Dortmund habe die niedrigste Industrialisierungsquote aller großen Städte, sagt Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD). Daher sei es besonders schwer, Niedrigqualifizierten Arbeitsplätze zu bieten. "Was ganz dringend notwendig ist, um die Lebenslage vieler Menschen nachhaltig zu ändern, ist der flächendeckende Mindestlohn." Belastend hätten sich zudem die Mittelkürzungen des Bundes für Arbeitsmaßnahmen in den Jobcentern ausgewirkt.
"Das Wohlstandsgefälle zwischen den Großstädten wird durch die Armutszuwanderung noch potenziert", sagt Armutsforscher Stefan Sell von der Fachhochschule Koblenz. Viele arme Zuwanderer gingen in arme Städte, weil dort der Wohnraum preiswerter sei. "Die Kommunen sind immer die letzten Hunde an der Kette und schlichtweg überfordert mit dem Problem."
Rosenbrock sagt auch, die Kürzung von rund 20 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik im Jahr 2010 räche sich. Für die öffentlich geförderte Beschäftigung und die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit müsse deutlich mehr Geld ausgegeben werden. "Eine Million Hartz-Vier-Leistungsbezieher rutschen sonst in die Apathie."
Oberbürgermeister Sierau und einige Fachleute halten aber auch die Statistik nur für eingeschränkt aussagefähig. Ein armutsgefährdeter Dortmunder habe wegen der niedrigen Mieten und günstigeren Lebenshaltungskosten möglicherweise ein deutlich besseres Auskommen als ein Münchener, der mit seinem Einkommen über der Armutsgefährdungsgrenze von 869 Euro netto im Monat für einen Single liege, argumentiert der OB.
Volkswirt Christian Arndt von der Hochschule für Wirtschaft in Nürtlingen sagt, die Statistik sei ein Maß für die Ungleichverteilung von Einkommen. In Baden-Württemberg etwa, das zusammen mit Bayern am besten abschneidet, "sind die Einkommen aber nicht gleicher". Wenn dort statt des bundesweiten der regionale Bemessungsmaßstab (Median) herangezogen werde, liege das Armutsrisiko im Bundesschnitt. Der technologische Wandel sei der Haupttreiber der Einkommensungleichheit und daher lebenslanges Lernen das A und O.
Unabhängig von der Region sind vor allem Alleinerziehende, Kinder und Alte von Armut betroffen. Alleinerziehende mit Kindern hätten seit Jahren das höchste Risiko, sagt die Geschäftsführerin des Bundesverbands alleinerziehender Mütter und Väter, Miriam Hoheisel. "Das ist ein gesellschaftlicher Skandal, kein privates Schicksal, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Benachteiligung."
In Ostdeutschland sei in den nächsten Jahren mit einer starken Zunahme armer älterer Frauen zu rechnen, sagt die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher. "Bald gehen die ersten Frauen in Rente, die teilweise zehn Jahre arbeitslos waren". Gesetzlicher Mindestlohn sei ein Ausweg. "Armutslöhne, von denen man nicht leben kann, führen zu Armutsrenten von denen man erst recht nicht leben kann."
Hilgers ergänzt: "Seit 2005 die Zahl der armen Kinder stärker gestiegen als in allen anderen Gruppen, obwohl wir weniger Kinder haben." Rosenbrock betont: "Dagegen ist umfassende Kita-Betreuung das Mittel der Wahl - und kein Betreuungsgeld."/irs/DP/jha
WIESBADEN (dpa-AFX)