Am 19. April schreitet Indien zur Urne. Die Parlamentswahl wird sich über sechs Wochen hinziehen und am 1. Juni enden. Es wird erwartet, dass die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung von Premierminister Narendra Modi einen deutlichen Sieg einfahren wird. Die Anleger richten ihren Fokus darauf, ob die Partei und ihre Partner 358 Sitze erreichen können, d. h. eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus, mit der Verfassungsänderungen umgesetzt werden könnten. Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2019 erreichte die BJP 303 Sitze, während die oppositionelle Kongresspartei 52 der 543 Sitze gewann.
Quelle: National Portal of India. Stand: März 2024.
Indien bei BIP-Wachstum 2024 weltweiter Spitzenreiter
Quelle: Weltwirtschaftsausblick des IWF. Januar 2024.
Eine Kombination mehrerer Faktoren stärkt die Zuversicht der Anleger in Bezug auf einen Sieg der BJP. Die Partei kann eine solide wirtschaftliche Bilanz vorweisen. So hat Indien in diesem Jahr unter den großen globalen Volkswirtschaften das höchste Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Darüber hinaus ist die Partei gut organisiert. Vertreter der Partei werden in den meisten der eine Million Wahllokale in Indien, in denen 969 Millionen Wahlberechtigte ihre Stimmen abgeben werden, vor Ort sein. Überdies ging die Partei bei der Auswahl von Kandidaten bislang nach dem Leistungsprinzip vor. Hierdurch wird ein inklusives Umfeld geschaffen und das Risiko interner Zersplitterung verringert.
Eine Zweidrittelmehrheit für die BJP und ihre Partner wird Modi in die Lage versetzen, Verfassungsänderungen vorzunehmen und einige der größten Anliegen der lokalen Wirtschaft und der ausländischen Anleger abzuarbeiten. Hierzu gehört u. a. die Terminzusammenlegung für lokale und landesweite Wahlen. Derzeit werden die Wahlen in den Bundesstaaten noch an verschiedenen, über das Jahr verteilten Terminen abgehalten. Dies könnte der Produktivität einen Schub verleihen, denn Wahltage in den Bundesstaaten gelten als Feiertage. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Fähigkeit der Regierung zur Generierung zusätzlicher Steuereinnahmen durch Justiz- und Wirtschaftsreformen erhöht wird.
Wenn Modi für eine dritte Amtszeit gewählt wird, dürfte sein Fokus weiterhin auf einer konservativen Fiskalpolitik liegen. Die Reform der Steuer auf Waren und Dienstleistungen (GST) im Jahr 2017, mit der die beigetriebenen Steuern auf 180 Milliarden USD verdoppelt wurden, hat das Gesamtsteueraufkommen von 9,9 % des BIP im Haushaltsjahr 2020 auf 11,7 % im Haushaltsjahr 2022 erhöht.1 Hierdurch sind die Ausgaben für Infrastruktur und Soziales gestiegen, und die Höhe des Haushaltsdefizits wurde verringert.
Indiens Zwillingsdefizit schrumpft
Quelle: Weltwirtschaftsausblick des IWF, Oktober 2023.
Indiens Steuereinnahmen in % des BIP
Quelle: Weltwirtschaftsausblick des IWF, Oktober 2023. Durch die steigenden Steuereinnahmen ist die Regierung imstande, grüne Investitionen zu fördern und ihren Fokus verstärkt auf Investitionen in IT-Hardware zu legen. Seit einiger Zeit liegt der Fokus auf Investitionen im Halbleiterbereich, da die Politik bestrebt ist, das inländische Angebot zu vergrößern und die Abhängigkeit des Technologiesektors von Software-Dienstleistungen aufzubrechen.
"Der immense Pool an IT-Fachkräften in Indien und ihre KI-Fähigkeiten werden die KI-Revolution mit vorantreiben", Jensen Huang, CEO NVIDIA.2
Am 29. Februar kündigte Modi drei Investitionen in den Halbleiterbereich in Höhe von insgesamt 15 Milliarden USD an. Diese Investitionen betreffen u. a. die erste indische Wafer-Produktionsstätte mit einer Anfangskapazität von 50.000 Wafern pro Monat.3 Das Werk wird in Gujarat gebaut. Diese Vorhaben umfassen Gemeinschaftsunternehmen mit führenden taiwanesischen und japanischen Halbleiterherstellern. Darüber hinaus wird der 2023 weltweit führende Speicherchiphersteller4 2,75 Milliarden USD in eine Montage- und Testanlage in Gujarat investieren.
Unter Modi wurde eine neue Bildungspolitik eingeführt, deren Schwerpunkt auf der Reform von Gesetzen liegt, die einer höheren Erwerbsquote bei Frauen im Wege stehen.7 Die Maßnahmen umfassen Schulungen und eventuell Quoten, um Unternehmen zur vermehrten Einstellung von Frauen zu veranlassen. Das Programm von UNICEF und PWC Upskill wird diese Maßnahmen ergänzen. Umgesetzt von UNICEF und finanziert von PWC Upskill, werden 300 Millionen Inder im erwerbsfähigen Alter, schwerpunktmäßig Frauen, eine Qualifizierung erhalten. Das Programm wird den Fachkräftemangel angehen und die durch die COVID-19-Pandemie geschaffene Bildungslücke schließen.8
Einhundert Jahre nach Erlangung seiner Unabhängigkeit strebt Indien bis 2047 den Status als Industrieland an. Zu den Maßnahmen für die Erreichung dieses Ziels gehören u. a. produktionsbezogene Anreize, die 2020 eingeführt wurden, und das "Make in India"-Programm. Zusätzlich wurden angebotsseitige Maßnahmen angekündigt, die auf die Verbesserung der Infrastruktur und die Weiterbildung von Arbeitnehmern ausgerichtet sind.
Annahmen, unter denen Indien bis 2047 den Status als Industrieland erreicht:
Der Ausbau der Qualifikationen und hierdurch die Steigerung der Produktivität gehören zu den wichtigsten Maßnahmen, um bis 2047 den Status als Industrieland zu erreichen. Auch wenn diese Maßnahmen möglicherweise nicht so viel Aufmerksamkeit erregen wie Investitionen in städtische U-Bahnnetze oder die Herstellung von Halbleitern, sind sie nicht weniger bedeutsam. Die Steigerung des Bildungsniveaus bei jungen Indern ist unerlässlich, um die demografische Dividende einzufahren.
Laut Modi sind die 2020er Jahre für Indien eine "Techade", also eine Dekade der Technologie. Auf kurze Sicht fokussiert er sich auf die Steigerung der Binnennachfrage, während der Fokus mittelfristig auf der Erhöhung der Exportkapazitäten liegt. Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich sind im Gange. Der Handelskorridor aus Indien, Nahem Osten und Europa befindet sich in Entwicklung, damit der zollfreie Zugang zu diesen Märkten genutzt werden kann. Diese angebotsseitigen Maßnahmen sind ebenso wichtig wie Investitionen in die Fertigungskapazität, um in Indien eine langfristige, nachhaltige Exportbasis aufzubauen.
Das Budget für das Haushaltsjahr 2023 beinhaltete drei politische Prioritäten für Indien, um sein Potenzial in der kommenden Techade auszuschöpfen:
Der Fokus auf Investitionen und die Steigerung des Bildungsniveaus werden zur Vergrößerung der indischen Mittelschicht beitragen und bestenfalls Millionen von Menschen aus der Armut herausholen. Unternehmen aus dem Sektor Nicht-Basiskonsumgüter dürften von diesen Maßnahmen profitieren. Durch unser Research vor Ort haben wir darüber hinaus Chancen im Gesundheitssektor ermittelt. Dies gilt sowohl für die Herstellung von Pharmazeutika als auch Gesundheitsdienstleister. Auch im Immobiliensektor, besonders bei Unternehmen mit soliden Bilanzen, sehen wir Chancen.
Ausländische Anleger schlossen sich in letzter Zeit den lokalen Anlegern an und investierten in das Thema "Indiens Techade". So drehten die Kapitalströme im März 2023 nach einer Phase mit ausländischen Kapitalabflüssen wieder ins Positive. Die inländischen Anleger bleiben in diesem Jahr bislang entschieden positiv gestimmt.
In- und ausländische Kapitalflüsse in den indischen Aktienmarkt Ausländische Kapitalflüsse seit kurzem wieder positiv
Quelle: Bloomberg. 15. März 2024.
Für den Fall, dass die BJP die anstehende Parlamentswahl in Indien gewinnt, erwarten wir keine wesentlichen Änderungen der Regierungspolitik. Modi hat seine Vision dargelegt, wie er bis 2047 den Status als Industrieland erreichen will, und er wird sich auf die weitere Umsetzung der Maßnahmen konzentrieren, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn er bei der Wahl eine Zweidrittelmehrheit erreicht, wird er ein Mandat für Verfassungsänderungen haben, die auch eine Reform des Justiz- und Wahlsystems umfassen dürften. Dies dürfte für die Anleger weitgehend positiv sein.
Die Risiken für die Anleger liegen vor allem in den Auswirkungen einer erfolgreichen Umsetzung von Modis wirtschaftlichen Prioritäten. Bedingt durch den "Fluch des Erfolges", könnten Indiens Exportambitionen durch eine Aufwertung des Wechselkurses gedämpft werden. Der INR/USD-Wechselkurs hat in den vergangenen zehn Jahren um 35 % abgewertet. Grund hierfür war eine Kombination aus steigendem Leistungsbilanzdefizit und großen Inflationsunterschieden zu anderen Schwellenländern, die Maßnahmen für einen schwachen Wechselkurs erforderten, um die Wettbewerbsfähigkeit im Export zu erhalten. Nach unserer Einschätzung dürften künftige Aufwertungen des Wechselkurses allmählich erfolgen, damit die Notenbanker die Kapitalbilanz stufenweise liberaliseren können, um die Aufwärtsbewegung zu steuern.
Was die weitere Entwicklung anbelangt, könnten eine geringere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zur Stromerzeugung und ein Fokus auf industrieller Wertschöpfung für den Export in einem Leistungsbilanzüberschuss resultieren und den INR/USD-Wechselkurs einem Aufwertungsdruck aussetzen. Auch wenn sich die Importkosten bei diesem Szenario verringern würden, sollte Indien nach unserer Überzeugung international wettbewerbsfähig sein und sich nicht auf einen schwächeren Wechselkurs verlassen, wenn das Land seine angebotsseitigen Maßnahmen, insbesondere die Bildungsreform, erfolgreich umsetzt.
Fußnoten
1. Quelle: Indische Regierung. 14. April 2022
2. Quelle: NVIDIA.
3. Quelle: Büro des Premierministers von Indien. 29. Februar 2024.
4. Quelle: Micron Technology. 22. Juni 2023.
5. Quelle: Internationale Arbeitsorganisation, 6. Februar 2022
6. Ebd.
7. Quelle: India Press Information Bureau. 29. Juli 2020.
8. Quelle: PWC. 7. Dezember 2020.
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